Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
schleifenden Schritte der ersten Gottesdienstbesucher am
Sonntagmorgen, denn dann flieht seine Mutter und versteckt sich in den Höhlen
hinter der Kirche, um erst Stunden später wiederzukehren, wenn Vater Karl
Victors Gestalt endgültig im Dorf verschwindet. Er hasst das Geräusch ihres
Hustens, denn es heißt, dass sie krank wird wie jeden Winter, dass sich ihre
Augen verschleiern, dass sie sich bewegt wie im Schlaf.
Weniger schreckhaft als seine Mutter,
beginnt er mit fünf, das Dorf zu erkunden. Er unterscheidet die Winde, die
zwischen den Holzhäusern umherstreichen. Das Plätschern, wenn das Waschwasser
und der Urin der Tiere aus den Ställen den Abhang hinunterströmen. Das
Quietschen und Knirschen der Wagenräder auf den steinigen Pfaden. Das Bellen
der Hunde, das Gackern der Hähne und im Winter das Muhen der Kühe und das
Stöhnen der Schafe. Es hört sich an, als wäre in jedem Stall ein Verrückter
eingeschlossen.
Die Geräusche der Menschen überwältigen
ihn: Atmen, Seufzen, Stöhnen, Fluchen. Sie schimpfen und weinen und lachen, und
all diese Äußerungen haben eine Million Formen. Aber der Platz in seinem
Erinnerungsvermögen ist nicht begrenzt. Jetzt kennt er Wörter, die man sprechen
kann – und er nimmt sie in den Glockenturm mit. Während seine Mutter ihre
Glocken läutet, plappert er, schreit Schimpfworte in den Himmel und spuckt
Gebete so in seine Faust, dass er genauso klingt wie der Bauer aus dem Dorf,
der sich die halbe Zunge abgebissen hat.
Unter den Geräuschen, die er hasst,
stehen die von Vater Karl Victor Vonderach ganz oben: sein schleppender Gang,
sein keuchender Atem, das Zischen und Schmatzen seiner Lippen – wie ein Kalb am
Euter. Der Knall, wenn er auf der Kanzel die große Bibel aufschlägt; der
Schlüssel, der sich schwerfällig im Schloss der leeren Kollektenbüchse dreht;
das Stöhnen, wenn er sich nach vorn beugt und sich ans Kreuz fasst; das
Ausatmen, wenn er meine –
Wie deine Geräusche dich verraten
haben, Karl Victor! Als ich sechs war, wussten meine Ohren genug, um dich zu
ewigem Höllenfeuer zu verdammen! Ich kannte das Plopp deiner Augen beim
Zumachen, das Blubbern des Schleims in deinem Hals bei deiner Sonntagspredigt
in unserer Kirche. Ich kriegte dein hasserfülltes Gemurmel mit, wenn du auf
deine Schäfchen hinabsahst. Und an anderen Tagen, wenn du hinaufgewandert
kamst, hörte ich an deinem eifrigen Keuchen, dass du nicht in Gottesgeschäften
unterwegs warst. Du hast nach meiner Mutter gerufen, nachts an die Tür unserer
Hütte gehämmert – wenn du nicht an dich halten konntest, sogar am helllichten
Tag. Sie konnte dich nicht hören, wohl aber ich. Die Laute, die aus ihrem
ungebildeten Mund kamen, klangen in deinen Ohren wie das Geplapper einer
Schwachsinnigen – aber für mich waren diese Laute ganz deutlich vernehmbare
Bitten.
III.
Die Leute aus dem Dorf
sagten, dass meine Mutter nicht bei klarem Verstand sei. Sie war schreckhaft,
sah wild aus, sie war schmutzig und weinte oder lachte beim geringsten Anlass.
Sie versteckte sich vor ihnen in den Höhlen, manchmal lief sie ohne Kleider
herum, sie zog ihren Sohn in einem Glockenturm auf, sie aß mit den Fingern, sie
kümmerte sich um nichts außer um ihr Kind und das Läuten ihrer Glocken.
Mehrmals sah ich, wie meine Mutter in
die Dachsparren kletterte, um auf das Joch der mittleren Glocke zu kriechen,
sich dann herunterhängen zu lassen und ihre Beine um deren Mitte zu schlingen,
einen Arm um die Krone zu legen, während sie mit dem anderen Arm die so
gedämpfte Glocke mit dem Hammer anschlug. Einmal errichtete sie unter der
größten Glocke einen Stapel aus Holzklötzen und stellte sich hinein, sodass die
sich kreuzenden Schallwellen jede ihrer Fasern kitzelten. Sie stahl ein
geflochtenes Rosshaarzaumzeug, band das eine Ende an ein Joch und das andere um
ihre Taille. Sie schwang zwischen den Glocken, schloss die Augen und ich
glaube, sie stellte sich vor, sie wäre eine von ihnen.
Ein anderes Mal bestrich sie die
Glocken mit Schlamm und schlug sie an. Sie hielt eine brennende Fackel an die
Ränder und schlug sie an. Sie schlug die Glocken mit der Hand an. Mit dem
Schädel. Mit dem Oberschenkelknochen einer Kuh. Mit einem Stück Kristall, das
sie in ihrer Höhle gefunden hatte. Mit der Bibel, die sie von Karl Victors
Kanzel genommen hatte (und dann in den Schlamm warf, als ihr das gedämpfte
Läuten nicht zusagte). Manchmal saß sie fröhlich in der Ecke und läutete eine
Glocke, indem sie rhythmisch
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