Der Katalysator
Haben Sie etwa schon den Befehl, Ihren Schreibtisch zu räumen?“
„Ich habe noch etwas zu tun. Wenn es geht, will ich es heute nacht noch erledigen.“
„Dann müssen Sie natürlich gehen. Ich nehme an, dies ist …“ Er streckte die Hand aus.
„Nein, es ist kein Abschied. Wir sehen uns bald wieder, mein Freund. Grüßen Sie Alessa von mir.“ Sie reichten sich die Hände. Seranes Handfläche war fest und trocken.
Mary Derringer wartete auf dem Parkplatz neben Pauls Electric. Erstaunt ging er auf sie zu. Sie kam ihm entgegen, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn hart auf den Mund. Ihre Wangen waren naß. Dann eilte sie davon, ohne sich umzuschauen. Seine Blicke folgten ihr, bis sie in dem Durcheinander der abfahrenden Gäste verschwunden war. Nachdenklich legte er die Finger auf den Mund.
Als er zum Labor fuhr, berührte er nochmals seinen Mund. Was konnte Mary an ihm finden, nachdem sie all die Jahre hindurch mit Serane zusammengewesen war? Er seufzte. Andererseits schienen ihm die Reaktionen von Frauen häufig ohne Sinn und Verstand zu sein. Ihre Werte, die Dinge, die attraktiv auf sie wirkten, gehörten zu einer anderen Welt. Wie auch immer – sie würde wahrscheinlich längst verschwunden sein, wenn dies vorüber war.
16
Hexennacht
Er hatte mit Dr. Mukerjee vereinbart, daß die Atmosphärendruckanlage für Trialin, die auf Kussmans Anweisung hin demontiert worden war, wieder aufgebaut wurde. Paul hatte den kristallisierten Harnstoff aus Uriahs Tausend-Gramm-Glas in den Harnstoff-Pyrolysator gegeben. Uriah, dachte Paul, wir werden deine Urea aufbereiten, wie du es dir niemals hättest träumen lassen.
Der Auffangbehälter war tariert und an das Gehäuse angeschlossen worden. Zwischen dem Behälter und dem Pyrolysator lag die leere Katalysekammer. Er brauchte nur noch den Katalysator in die Kammer einzufüllen und den Pyrolysator einzuschalten. Es erschien unglaublich einfach, fast ernüchternd. Er trug die Kammer in den Mühlenraum, zog Asbesthandschuhe über und nahm das Tablett mit dem getrockneten Katalysator aus Moulins Trockenofen. Einer raschen Eingebung folgend, wog er ihn. Es waren knapp über dreitausend Gramm, genug also, um die Kammer damit zu füllen. Behutsam und ohne etwas zu verschütten, streute er alles in den Einfülltrichter.
Billy war jetzt untrennbar mit Stein verbunden. Eine mystische Verschmelzung. Ein Zurück gab es nicht mehr.
Der Schierlingsbecher ist geleert.
Der Vorhang des Tempels ist zerrissen. In dieser furchtbaren Nacht zerreißt der Runenfaden der Nornen.
Geister werden erscheinen, Gespenster umhertanzen. Es ist Walpurgisnacht.
Er trug die gefüllte Kammer zurück in die Stickstoffabteilung und schaltete das Computermikrophon ein. „Intern und vertraulich. Hier ist Paul Blandford. Einundzwanzig Uhr dreißig. 19. Mai 2006. Ich führe persönlich einen Trialin-Testlauf durch und verwende dabei einen porösen, mit einem Oxydgemisch aktivierten Kieselsäure-Katalysator. Harnstoff: eintausend Gramm. Temperatur: dreihundertfünfzig Grad Celsius. Ich beabsichtige damit, einen Vorschlag zu realisieren, den Johnstone Sinclair Serane heute morgen gemacht hat. Ich bitte um Bestätigung.“
„Verstanden“, sagte der Computer mit Kussmans Stimme. Paul zog eine Grimasse. Das würde er ändern, aber nicht jetzt.
Er setzte die zylindrische Kammer auf das Gestell, verband sie mit dem Harnstoff-Pyrolysator und dem Trialin-Auffangbehälter und schaltete den Variac-Brenner des Pyrolysators ein. Dann schaute er auf die Uhr. Es war zwanzig vor zehn.
Er dachte: Wenn ich den atmosphärischen Druck erwähne, werden Kussmans Sperren den Testlauf blockieren. Der Computer wird alles löschen. Aber vielleicht kann ich es irgendwie einschieben. Bis dahin sollte ich nichts riskieren.
Er kramte Seranes letztes Notizbuch aus seiner Aktentasche, schlug die letzte, leere Seite auf und begann den Ablauf des Verfahrens niederzuschreiben.
Es würde etwa zehn Minuten dauern, bis der Pyrolysator die richtige Temperatur erreicht hatte, und weitere zehn, bis der Katalysator aktiviert war. Das erste Trialin müßte zwischen zehn und Viertel nach zehn zum Vorschein kommen. Um Mitternacht wäre alles vorüber.
Er sprach in das Computermikrophon. „Es ist jetzt zweiundzwanzig Uhr acht. Die Pyrolyseprodukte aus Uriahs Harnstoff dringen jetzt in die Katalysekammer ein. Ich sehe, wie die Dämpfe durch die Kieselsäure-Asche-Füllung wirbeln.“
„Verstanden“, sagte der
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