Der Kaufmann von Lippstadt
Besuch persönlich in Empfang zu nehmen. Er läuft über das Kieselsteinpflaster des Marktplatzes 5 , den Blick nach unten gerichtet, um nicht über die lockeren Steine und Schlaglöcher zu stolpern. Die Glocken der Großen Marienkirche läuten. Es ist 12 Uhr Mittag. Aber jeder in der Stadt weiß, dass die Uhr nie oder nur selten richtig geht.
Overkamp betritt kurz die Schänke ›Goldener Hahn‹.
»Guten Tag, Franz. Ist mein Geschäftsfreund und Schwager Matthiesen aus Lübeck schon eingetroffen?« Overkamp ist außer Atem. Der Verlauf des Vormittags und die große Eile setzen ihm zu.
»Bedaure zutiefst, Herr Overkamp. Der werte Herr Matthiesen ist noch nicht hier. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, gnädiger Herr? Bei dieser Hitze braucht man viel Flüssigkeit!«
»Ist schon richtig, Franz. Aber jetzt habe ich keine Zeit. Ich komme gleich mit Matthiesen. Dann haben wir uns einen Schluck verdient.«
Als Overkamp wieder auf die Lange Straße hinaustritt, schlägt ihm die Hitze entgegen. Die Stadt braucht dringend Abkühlung. Overkamp wendet sich nach links, stadtauswärts und hat die Sonne im Rücken. So kann er sehen, wer ihm entgegenkommt. Am Lipper Tor schreitet er über die ersten beiden der insgesamt sieben 6 Brücken, die durch die Festungsanlage über die Lippe führen. Auf der Zugbrücke über dem Hauptgraben bleibt er stehen und blickt zurück zur Stadt. Vermutlich ist im Pulverschuppen schon die Munition hochgegangen, denkt Overkamp. Er hat zwar nichts gehört, das wundert ihn ein wenig, aber es ist besser, wenn sich die Angelegenheit ohne viel Aufhebens von selbst erledigt. – Was habe ich getan? Diese Frage macht sich erst jetzt in seinem Kopf breit. Wie hat es so weit kommen können? Die vielen Munitionsmagazine in den Türmen, den Festungsanlagen und den Schuppen hätten aber auch längst geräumt werden müssen, findet Overkamp. Nur einen kleinen Augenblick haben ihn die Umstände schwach werden lassen, der Verlockung des Pulvers hat er nicht standhalten können, muss sich Ferdinand Overkamp eingestehen.
Er hat ein Verbrechen begangen! Er hat einen Menschen getötet, wenn auch einen armen Schlucker, aber eben einen Menschen.
Das schlechte Gewissen bricht mit voller Wucht auf ihn ein.
Mein Gott, denkt Overkamp, ich habe einen jungen Burschen getötet. Das hätte ich nicht tun dürfen! Ob ich es noch ändern kann? Vielleicht ist der Schuppen doch noch nicht explodiert? Dann könnte ich hineilen und die Kerze aus dem Pulver nehmen, und so die Explosion verhindern. Aber nein, das ist zu gefährlich. Was ist, wenn der Schuppen ausgerechnet dann in die Luft fliegt, wenn ich drin bin? Oder kurz davor bin? Es geht nicht. Ich kann nicht hin. Außerdem ist der Bursche ja ohnehin schon tot, erinnert sich Overkamp. Über seine eigenen Beine ist er gestürzt und hat sich vermutlich so stark am Kopf oder besser im Kopf verletzt, dass er daran gestorben ist. Das war ein Unfall, da trägt er, Overkamp, gar keine Verantwortung und keine Schuld. Das war Pech für den Jungen. Und für Overkamp selbst auch, denn nur wegen des unglücklichen Sturzes quälen ihn diese entsetzlichen Gedanken. Er hat einen Menschen getötet. Nein, es war ein Unfall. Aber er hat ihn verursacht. Was ist, wenn der Bursche doch nicht tot, sondern nur ohnmächtig ist? Vielleicht hätte er doch Dr. Buddeus holen sollen? Dieser hätte für den Burschen vielleicht noch etwas tun können. Aber dann hätte er erklären müssen, was er mit dem Jungen zu schaffen hat. – Eigentlich müsste er doch die Explosion verhindern. Man weiß ja nicht, ob und wie das Pulver hoch geht. Ob es noch einen Schaden anrichten kann? Wohl kaum, beruhigt sich Overkamp, es ist schließlich schon älter und bestimmt ebenso feucht, wie die Zündschnur. Es wird schon nichts weiter geschehen! Der Bursche ist und bleibt tot. Das kann Overkamp nicht mehr ändern. – Und wenn er doch hinläuft, um sich zu vergewissern, dass …
»Werter Herr Overkamp?! Guten Tag?! – Herr Overkamp, hören Sie mich?«, fragt Hinrich Jost Matthiesen, der hoch zu Pferd neben Overkamp steht. Overkamp erschrickt. Seine Gedanken hatten sich selbstständig gemacht. Wie lange Matthiesen wohl schon neben ihm steht?
»Seien Sie gegrüßt, Herr Matthiesen. Hatten Sie eine angenehme Reise?«, empfängt der Lippstädter Kaufmann seinen Geschäftsfreund und Schwager. Overkamp hat große Mühe, seine verstörten Gedanken zu verdrängen und sich ausschließlich seinem Gast zu
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