Der Kaufmann von Lippstadt
Ja, es gibt so viel zu tun, um diese Stadt wieder zu einer ansehnlichen zu machen.
Im Nachbarhaus schlägt eine Tür laut zu. Anschließend hört Ferdinand Overkamp den alten Kerkmann vor Wut dessen Gemahlin anschreien. Worum es geht, kann Overkamp allerdings nicht verstehen. Dann schreit die Frau vor Schmerz auf – einmal, zweimal, dreimal. Overkamp hält sich die Ohren zu, um das unverkennbare Geräusch des ledernen Gürtels auf Haut nicht hören zu müssen. Wie oft verdrischt der alte Kerkmann Frau und Kinder dermaßen, dass diese das Haus für mehrere Tage nicht verlassen können? Es ist so entsetzlich, dass Overkamp es hier draußen im Kräutergarten nicht aushält, und obwohl er gerne noch ein wenig an der frischen Luft seinen Gedanken freien Lauf gelassen hätte, geht er nun doch lieber in die Küche und schließt die Tür von innen.
Auch hier findet Ferdinand Overkamp keine Ruhe. Agnes, die junge Magd, reißt die Küchentür auf, holt eine Emaille-Schüssel aus dem Schrank und rennt wieder nach oben, wo Elisabeth würgt und erbricht. Jeden Morgen ist ihr so entsetzlich übel, dass es Overkamp leid tun würde, wenn er sich Mitgefühl gestattete. Immerzu dieses würgen. Der Magen ist leer. Es wird nur noch Galle kommen, denkt Overkamp und schüttelt sich auf Grund seiner Vorstellung. Seine Kopfschmerzen werden immer schlimmer. Auch ein Glas Wasser und eine Tasse Kaffee, die er sich selbst hat zubereiten müssen, da beide Mägde Elisabeth anscheinend keinen Augenblick alleine lassen können oder möchten, helfen nicht. So beschließt Overkamp, sich in der Apotheke ein schmerzlinderndes Pulver zu besorgen.
Auf dem Weg zu Tilemann in der ›Einhorn-Apotheke‹ fürchtet Overkamp für einen Augenblick, dass es noch so früh am Tag ist, dass Tilemann noch gar nicht in seiner Offizin ist. Die Stadtuhr am Turm der Großen Marienkirche zeigt halb acht. Das ist wahrlich früh. Nun fällt Overkamp auch auf, dass sein Magen knurrt. Er hätte Brot essen sollen. Die Tür der ›Einhorn-Apotheke‹ ist zwar noch verschlossen, doch Tilemann räumt im Inneren bereits Standgefäße in ein Regal. Overkamp klopft, und Tilemann öffnet ihm.
»Guten Morgen! Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Bitte geben Sie mir etwas Starkes«, fleht Overkamp und erklärt zwar, wie lange er schon unter derartigen Schmerzen leidet, verschweigt aber den Grund: Elisabeths Schwangerschaft.
»Da kann ich nur ein leicht stärkendes Hauptpulver anbieten«, sagt Tilemann. »Gehen Sie doch zu Dr. Buddeus, der könnte etwas mit Opium verordnen, das hilft gegen Schmerzen gut.«
»Ich nehme das Pulver«, beschließt Overkamp, bezahlt und macht sich auf den Weg nach Hause.
Als er in die Kirchgasse einbiegt – noch ist er nicht ganz um die Ecke – sieht er einen jungen Burschen vor seinem Haus stehen und nach oben blicken. Overkamp folgt dem Blick und sieht gerade noch, wie in Elisabeths Schlafkammer das Fenster von innen geschlossen wird. Wer ist der Bursche? Was hat das alles zu bedeuten? Unzählige Fragen und Gedanken brechen auf Overkamp ein. Eine Antwort setzt sich in seinem schmerzenden Kopf durch: das ist der Vater des ungeborenen Kindes! Ja, das kann gar nicht anders sein. Wer sonst sollte unter dem Fenster seiner Tochter stehen, wenn nicht der Vater? Der Bursche scheint sehr jung zu sein. Aber Elisabeth ist auch jung. Nicht zu jung, aber unverheiratet. Was schwerer wiegt. Wer mag der Bursche sein? Käme er aus gutem Hause, wäre er bekannt. Aber allein seine Kleidung verrät, dass er arm ist. Und dreckig. Mein Gott!!! Mit so einem Burschen hat sich seine Tochter eingelassen? Das kann gar nicht sein. So ist sie nicht. Und doch ist sie schwanger. Das geschieht ja nicht, ohne … Overkamp verbietet sich, den Gedanken fortzuführen. Seine kleine Tochter. Mit so einem Kerl! Unglaublich. Wer mag er nur sein?
Der Bursche verlässt die Kirchgasse ohne Ferdinand Overkamp bemerkt zu haben. Dieser schleicht hinterher. Wer kann der Junge sein? Wo geht er hin? Wo wohnt dieser Bursche? Overkamp sieht gerade noch, wie der Junge von der Poststraße unten durch den Durchgang des Metzgeramtshauses huscht, die Fleischhauerstraße überquert und durch die Pfade in Richtung Süder Tor läuft.
Er will verschwinden, schießt es Overkamp durch den Kopf, der heimlich, wie ein Verbrecher, schnell aber vorsichtig, dem Burschen gefolgt ist. Der Junge will verschwinden. Das darf er nicht. Er muss für das Kind und Elisabeth einstehen. Das gehört sich so! Aber
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