Das Schicksal in Person
1
M iss Marple hatte ihren Mittagsschlaf beendet, setzte sich bequem in ihrem Lehnsessel zurecht und gab sich mit Genuss der Lektüre der Times hin. Jeden Morgen wurden ihr zwei Zeitungen ins Haus gebracht. Die eine diente der Bereicherung des Morgentees, und die zweite war dazu ausersehen, ihr die Nachmittagsstunden zu verschönern. Miss Marple hielt sich nicht lange bei den Nachrichten der ersten Seite auf: Was sie immer wieder magisch anzog, waren nicht die großen politischen, sondern die kleinen privaten Ereignisse, Heiraten, Geburten, Todesfälle.
Da sie eine alte Dame war und ihre Freundinnen über das Alter des Heiratens und Kinderkriegens hinaus waren, war es nur natürlich – leider musste sie es immer wieder mit Wehmut feststellen –, dass sie die ihr bekannten Namen immer häufiger in der Rubrik »Todesfälle« antraf. Mit der ihr eigenen Gewissenhaftigkeit, gemischt mit einer guten Portion Neugierde, ging sie die ganze Liste durch: Allway, Ardon, Barton, Clegg. Clegg? War das eine von den Cleggs, die sie kannte? Nein, vermutlich nicht, es war eine Janet Clegg aus Yorkshire.
Weiter: McDonald, Nicholson, Ogg, Ormerod, Quantril. Meine Güte, ja, Elizabeth Quantril, mit fünfundachtzig Jahren. Dabei hatte sie geglaubt, sie sei längst gestorben. Eine zarte, immer etwas kränkliche Frau, niemand hatte erwartet, dass sie so lange leben würde.
Race, Radley, Rafiel. Rafiel? Irgendetwas kam ihr an dem Namen bekannt vor. Jason Rafiel, Belford Park, Maidstone. Merkwürdig, wo sollte sie den nur wieder hintun. Na, es würde ihr schon noch einfallen.
Ryland, Emily Ryland. Innig geliebt von ihrem Mann und ihren Kindern. Traurig, sehr traurig oder sehr rührend, je nachdem, wie man es betrachtete.
Miss Marple legte die Zeitung auf den Tisch und überflog das Kreuzworträtsel, während sie versuchte, in ihrem Gedächtnis nach dem Namen Rafiel zu kramen. Dann ging ihr Blick zum Fenster und hinaus auf ihren Garten. Diese verdammten Ärzte. Nichts war ihr auf der Welt so lieb gewesen wie ihre Gartenarbeit. Und dann hatte man ihr das eines Tages alles verboten. Eine Weile hatte sie noch versucht, sich diesem Verbot zu widersetzen, doch bald hatte sie gemerkt, dass es tatsächlich nicht mehr so ging wie früher, der Rücken tat ihr einfach zu weh. Sie hatte dann den großen Sessel so hingestellt, dass die Verlockung, hinauszuschauen, nicht mehr allzu groß war, und sich resigniert einer Tätigkeit zugewandt, die zumindest etwas nützlich war: Sie begann zu stricken.
Seufzend griff sie jetzt nach ihrem Strickzeug, ein kleines Babyjäckchen, und stellte fest, dass sie heute zu den Ärmeln übergehen musste. Ärmel waren immer eine langweilige Arbeit. Doch wenigstens konnte sie sich an der schönen rosa Wolle erfreuen. Rosa Wolle. Einen Augenblick mal. Erinnerte sie das nicht an etwas ganz Bestimmtes? Ja, natürlich, das hing doch mit dem Namen zusammen, den sie eben gelesen hatte. Rosa Wolle, das blaue Meer, der Sandstrand, sie selbst mit dem Strickzeug und, ja, so war es, Mr Rafiel neben ihr. Die Reise ins Karibische Meer. Die Insel St.-Honoré. Ein Geschenk ihres Neffen Raymond. Und sie dachte plötzlich daran, wie Joan, Raymonds Frau, gesagt hatte: »Und pass schön auf, Tante Jane, dass du nicht wieder in irgendeine Mordgeschichte verwickelt wirst. Es ist nicht gut für dich!«
Nun, sie hatte wirklich nicht im Sinn gehabt, wieder in eine Mordsache hineingezogen zu werden, aber es war eben nun mal passiert. Und nur, weil ein alter Major mit einem Glasauge darauf bestanden hatte, ihr einige sehr alte und sehr langweilige Geschichten zu erzählen. Armer Major – wie hieß er denn noch? Nein, es fiel ihr nicht mehr ein. Mr Rafiel und seine Sekretärin, ja, Esther Walters war ihr Name, und sein Masseur, Jackson. Soso, Mr Rafiel war jetzt also auch tot. Armer Mr Rafiel! Er wusste damals schon, dass er nicht mehr lange leben würde. Aber nun hatte der Tod noch eine Weile auf sich warten lassen. Ja, das war ein zäher Mann, dieser Rafiel, ein eigensinniger Mann – und ein sehr, sehr reicher Mann.
Miss Marples Gedanken konnten sich nicht von Mr Rafiel trennen, doch ihre Hände strickten unablässig weiter. Das war eine aufregende Zeit gewesen, damals im Karibischen Meer. In einer dieser warmen Nächte war sie in ihrer Not zu ihm gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten. Sie hatte damals den hübschen rosa Wollschal wie einen Turban um den Kopf geschlungen, und er hatte sie ausgelacht. Doch dann, als er hörte, was
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