Der Kaufmann von Lippstadt
2010.
124 Gegen die Gedankenlosigkeit. Gedenkstunde an der Alten Synagoge mit aktuellen Bezügen . In: Neue Westfälische, 10. November 2010.
10. November 2010
Für heute ist die Zwangsräumung des Overkamp’schen Hauses angesetzt. Soweit Oliver weiß, hat Wolfgang Engerling sich nicht einmal um eine andere Wohnung bemüht. Er scheint sich um nichts gekümmert zu haben. Wohl aber Barbara Engerling. Sie ist ausgezogen, wohin, weiß Oliver nicht, und hat sich zeitgleich von ihrem Mann getrennt. Sie ist ihrem Anteil der Forderung, der Nutzungsentschädigung, nachgekommen und hat mit der bevorstehenden leidigen Angelegenheit nichts mehr zu tun.
Wolfgang Engerling hat mehrfach, sogar vor Zeugen, lauthals verkündet, man müsse ihn schon aus seinem Haus heraustragen, freiwillig würde er nicht gehen. Auch bei dem ersten und einzigen Telefonat hat Engerling zu Oliver gesagt, dass er nicht zu glauben brauche, dass alles friedlich abliefe, nein, er, Engerling, werde so viel Ärger machen wie möglich. Das sei das Mindeste, was er noch tun könne, und Oliver habe es nicht besser verdient. Daraufhin hat Oliver nicht nur mit der Polizei und dem Ordnungsamt, sondern auch mit einem Gerichtsvollzieher gesprochen. Wer genau jetzt den Ablauf der heutigen Zwangsräumung geplant hat, weiß Oliver gar nicht. Ihm wurde lediglich mitgeteilt, dass es am 10. November um zehn Uhr losginge. Das ist jetzt.
Annika und Oliver sind rechtzeitig von Paderborn nach Lippstadt gefahren und stehen pünktlich in sintflutartigem Regen an der Ecke Rathausstraße/Kirchgasse. Aus einem Gefühl heraus halten sie lieber einen Sicherheitsabstand zum Haus ein. Wolfgang Engerling ist ein unberechenbarer Choleriker. Das scheint auch dem Gerichtsvollzieher bewusst zu sein, denn er rückt gleich mit dem Räumungsdienst, einem von der Stadt Lippstadt beauftragten Umzugsdienst, und der Polizei an.
Der Gerichtsvollzieher klingelt und bemerkt dabei, dass die Eingangstür nur angelehnt ist. »Herr Engerling? Sind Sie da?«, ruft der Mann. »Mein Name ist Michael Breker. Ich bin Gerichtsvollzieher. Wir kommen jetzt rein!« Breker wartet einen Augenblick, und als sich nichts rührt, betritt er mit zwei Polizisten das Haus.
Es dauert gar nicht lange, höchstens eine Minute, bis die drei Männer das Haus eilig wieder verlassen.
»Das ging ja schnell«, wundert sich Annika.
»Verstehe ich nicht«, sagt Oliver.
Dann hören sie kurz darauf das Martinshorn der Feuerwehr. Ein Löschzug kommt mit Blaulicht und hält mitten auf der Rathausstraße. Das macht die wenigen Wochenmarktbesucher neugierig. Schnell eilen sie mit ihren Schirmen herbei und bilden eine Menschentraube hinter Oliver und Annika.
»Mein Gott, der brennt mein Haus ab!«, ruft Oliver entsetzt, als er begreift, was geschehen sein muss. »Das kann er doch nicht machen. Das darf er nicht!« Oliver geht ein paar Schritte in die Kirchgasse und stellt sich und Annika vor.
»Breker. Michael Breker. Gerichtsvollzieher«, entgegnet dieser und stellt sich mit unter Olivers Schirm. »Es brennen nur die Mülltonnen in dem kleinen Hof hinter der ehemaligen Küche. Der Engerling hat sich dahinter verschanzt. Scheint alkoholisiert zu sein, der Mann«, erklärt Breker die Situation. »Bitte gehen Sie doch weiter«, fordert er die Schaulustigen auf, die sich dieses Spektakel aber nicht entgehen lassen wollen und stehen bleiben. »Es geht gleich weiter mit der Zwangsräumung«, erklärt Breker Oliver und Annika. »Das kriegen wir heute hin, machen Sie sich keine Gedanken. Gehen Sie doch einen Kaffee trinken, bei diesem Regen. Der scheint heute kein Ende nehmen zu wollen.«
»Nein, auf keinen Fall gehe ich Kaffee trinken. Ich bleibe«, beschließt Oliver.
»Ich auch«, sagt Annika. »Man geht doch nicht, wenn es am spannendsten ist.«
Als die Feuerwehr wieder abgerückt ist, verschwindet Michael Breker mit den beiden Polizisten erneut im Overkamp’schen Haus. Diesmal dauert es länger.
»Was machen die denn da drinnen?«, fragt Oliver. »Kaffee trinken?«
»Vielleicht ist Engerling zu betrunken und soll erst etwas nüchterner werden«, überlegt Annika, obwohl sie weiß, dass das Quatsch ist.
»Der wird nicht mehr nüchtern. Geld weg, Haus weg, Frau weg. Der hat nichts mehr. Engerling säuft sich zu Tode«, sagt einer der Schaulustigen.
»Schön wär’s«, schließt sich ein anderer an. »Aber Totgesagte leben länger.«
»Den werden wir nicht los. Die Engerlings kleben seit Jahrhunderten an Lippstadt wie
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