Der Kaufmann von Lippstadt
Geschäftspapiere geholt und ins Feuer geworfen, das draußen im zugewucherten Kräutergarten hinter der Küche lichterloh brennt. Der Ascheberg verrät, dass Overkamp schon viel verbrannt hat. Er will all seine Unterlagen vernichten, nichts soll von ihm zurückbleiben. Nichts soll an ihn erinnern. Die Menschen in dieser Stadt sollen ihn vergessen. Alle Menschen sollen ihn vergessen: den einstigen Kaufmann, der voller Stolz durch die stärkste Festung zwischen Rhein und Weser geschritten ist, der es durch harte und ehrenhafte Arbeit zu Ansehen in Lippstadt gebracht hat. Was ist aus ihm geworden? Ein Mörder, ein Feigling, ein gebrochener Mann, der nicht nur sein Haus, sein Land und sein Geld verloren hat, nein, er hat auch die Menschen verloren, die ihm am nächsten standen. Seine große Liebe, Johanna, verachtet ihn und bleibt nur, weil sie nicht fort kann; seine Erstgeborene, Elisabeth, seinen Wonneproppen, hat er verstoßen. Seinen Enkel erkennt er nicht an. Seine vier Söhne, die sein Erbe in Lippstadt fortführen sollten, sind tot. Es gibt keinen männlichen Nachfahren in Lippstadt. Niemand wird kommen und sich seiner erinnern. Ich bin es ohnehin nicht wert, denkt Overkamp voller Gram.
Wenn das Feuer doch nur auf das Haus übergreifen würde, denkt Overkamp. Nie wieder wird ein Mensch, der mein Blut in sich trägt, in diesem Haus leben. Niemals.
15ter Oktober 1765
Als um 12 Uhr die Versteigerung des Overkamp’schen Hauses im Rathaus beginnt, steht die Kutsche fertig bepackt in der Kirchgasse.
Es ist kurz nach halb eins, als Dr. Rose, wie versprochen, in die Kirchgasse kommt, um Overkamp zu berichten, wem das Overkamp’sche Haus in Zukunft gehört. Bürgermeister Kellerhaus hat ihn darum gebeten. »Er vertraut Ihnen, Dr. Rose, bitte berichten Sie ihm vom Verlauf der Versteigerung«, hat Kellerhaus veranlasst. Dr. Roses Cousin, Justizrat Johann Conrad Rose, hat schon im Vorfeld angekündigt, das Haus nicht erwerben zu wollen. Er baut schließlich am Soest Tor und will – vielleicht in ein paar Jahren – noch das Gebäude an der Judenstraße gänzlich umbauen. Leider seien sogar seine Geldmittel beschränkt, er könne nicht alles kaufen. Diedrich Zurhelle wollte nicht kaufen, weil noch unverheiratet, und man wisse schließlich nicht, was die Zukunft bringe, hat er verlauten lassen. Sowohl von Familie Mattenklodt als auch von anderen wohlhabenden Familien Lippstadts fehlt jede Spur. Ob sie sich scheuen, um Overkamp nicht in Verlegenheit zu bringen? Am Haus selbst wird es nicht liegen.
»Stadt-Syndicus Clüsener hatte sein ganzes Geld bereits ausgegeben, und damit blieb nur noch Caspar Engerling. Er hat den Zuschlag bekommen. 976 Reichsthaler muss er für Ihr Haus berappen. Dabei ist doch der Wert Ihres Hauses auf 1900 Reichsthaler taxiert. Es ist lächerlich, was passiert ist. Das hätte nicht geschehen dürfen. Mein lieber, werter Herr Overkamp, ich versichere Ihnen, wir haben alles in unserer Macht stehende versucht, um zu verhindern, dass Engerling Ihr Haus bekommt. Es ist uns leider nicht gelungen. Bitte verzeihen Sie uns unsere Unzulänglichkeit«, windet sich Dr. Rose, der sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlt. Er hat das Gefühl, er habe etwas Unrechtes geschehen lassen. Daher fährt er fort: »Bitte erzählen Sie mir, was Ihnen in unserem schönen Lippstadt widerfahren ist. Erleichtern Sie Ihr Herz, mein lieber Herr Overkamp. Ich würde so gerne etwas für Sie tun! «
»Wir müssen jetzt fahren, Dr. Rose. Sie sind ein aufrichtiger Mann, Sie haben getan, was Sie konnten. Ähnliches sagte ich auch vor wenigen Tagen zu Dietrich Kellerhaus, der ja einst gemeinsam mit Ihnen bemüht war, die Preise für meine Mobilien in die Höhe zu treiben. Dafür danke ich Ihnen«, sagt Overkamp und nickt zum Gruß. »Bitte danken Sie in meinem Namen auch dem Magistrat für seine Bemühungen.«
»Gerne. Bitte gestatten Sie mir, Sie bis zum Lipper Tor zu begleiten. Das ist das Mindeste, was ich für Sie noch tun kann. Als ehemaliger und hoffentlich künftiger Bürgermeister von Lippstadt möchte ich Sie gebührend verabschieden, damit Sie unsere – ach, was sage ich – Ihre Stadt in wohlwollender Erinnerung behalten.«
Als Overkamp kurz nickt, steigt Dr. Rose kurzerhand ins Innere der Kutsche, was der gnädigen Frau sichtlich unangenehm ist. Sie ist nicht geputzt, schließlich hat sie schon gestern alles einpacken müssen. Sie fürchtet, mit ihren roten, verquollenen Augen auszusehen wie ein Weib aus dem
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