Der Ketzerlehrling
entschlossene Gesicht, das ihn mit so eindringlichen und ernsten Augen anblickte, »möchte ich Eure Meinung hören. Ich versuche nicht, Euch eine Falle zu stellen. Sie interessiert mich.«
»Mylord«, sagte Elave, seine Worte mit Bedacht wählend, »ich glaube, daß uns der freie Wille geschenkt wurde und daß wir ihn gebrauchen dürfen und müssen, um zwischen Gut und Böse zu entscheiden, wenn wir Menschen sind und keine Tiere.
Das ist gewiß das Mindeste, was wir tun können – zu versuchen, uns durch rechtes Handelns den Weg zur Erlösung zu bahnen. Ich habe nie die Gnade Gottes geleugnet. Gewiß ist die größte Gnade, die uns zuteil wurde, diese Möglichkeit zur Entscheidung und die Kraft, den rechten Gebrauch von ihr zu machen. Und wenn es einen Tag des Jüngsten Gerichts gibt, Mylord, dann wird und kann nicht über Gottes Gnade gerichtet werden, sondern nur über das, was jeder einzelne Mensch mit ihr getan hat, ob er diese Gabe vergraben oder mit seinem Pfunde gewuchert hat. Es sind unsere eigenen Handlungen, über die wir Rechenschaft ablegen müssen, wenn der Tag kommt.«
»Wenn Ihr so denkt«, sagte der Bischof, während er ihn interessiert musterte, »könnt Ihr natürlich kaum akzeptieren, daß die Zahl der Auserwählten bereits feststeht und alle übrigen verdammt sind. Wenn dem so wäre, weshalb sollte man sich dann bemühen? Und wir bemühen uns. Es liegt in der Natur des Menschen, ein Ziel zu haben und auf seine Erfüllung hinzuarbeiten. Und Gott weiß besser als jeder andere, daß Gnade und Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gute Ziele sind.
Was sonst wäre Erlösung? Es ist kein Unrecht, wenn man sich dazu verpflichtet fühlt, daß man sie sich verdienen muß, anstatt darauf zu warten, daß sie einem geschenkt wird wie einem Bettler ein Almosen, unverdient.«
»Das sind Mysterien, über die die Weisen nachdenken mögen, wenn überhaupt jemand es wagen darf«, sagte Gerbert mit kalter Mißbilligung, aber gleichzeitig ein wenig abwesend; denn ein Teil seines Denkens beschäftigte sich bereits mit der Reise nach Chester und der diplomatischen Schlauheit, die er an den Tag legen mußte, wenn er dort angekommen war. »Für einen Menschen, der selbst unter der Laienschaft keine große Rolle spielt, ist es Anmaßung.«
»Es war also anmaßend von unserem Herrn, mit den Schriftgelehrten im Tempel zu streiten«, sagte der Bischof, »da er ebenso ein Menschenkind war wie ein Gott und in beidem seiner Natur getreu? Aber er tat es. Wir heutigen Schriftgelehrten täten gut daran, uns zu erinnern, wie verletzlich wir sind.« Und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte Elave ein paar Minuten lang sehr eindringlich. »Mein Sohn«, sagte er dann, »ich kann Euch keinen Vorwurf daraus machen, daß Ihr Euren Verstand benutzt, der, wie Ihr bestimmt sagen würdet, gleichfalls eine Gabe Gottes und dazu da ist, daß man ihn gebraucht und nicht ungenutzt vergräbt. Aber vergeßt nie, daß auch Ihr irren könnt und auf Eure Art ebenso verletzlich seid, wie ich auf die meine.«
»Mylord«, sagte Elave, »diese Lektion habe ich nur allzugut gelernt.«
»Aber hoffentlich nicht so gut, daß Ihr nun Eure Gaben vergrabt. Es ist besser, eine zu tiefe Rinne zu schneiden, als auf der Stelle zu treten und schal zu werden. Ich verlange nur noch eine Probe, damit soll es mir dann genügen. Wenn Ihr von ganzen Herzen an die Worte des Credos glaubt, dann sprecht sie jetzt im Angesicht dieser Versammlung und Gottes.«
Elave hatte begonnen, so hell zu strahlen wie das Sonnenlicht, das auf dem Boden des Kapitelsaals einfiel. Ohne weitere Aufforderung, ohne eine Sekunde des Nachdenkens, begann er mit lauter, klarer und freudiger Stimme: »Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Herrscher über alle Menschen, den Schöpfer aller Dinge, der sichtbaren wie der unsichtbaren …«
Denn dies stand im Hintergrund seines Bewußtseins, unangetastet seit seiner Kindheit, gelernt von seinem ersten priesterlichen Gönner, den er geliebt hatte und der für ihn nichts Unrechtes tun konnte, mit dem er es regelmäßig über Jahre hinweg gesprochen hatte, ohne je in Frage zu stellen, was es für den sanften Lehrer bedeutete, den er anbetete und dem er nacheiferte. Dies war sein Glaube, den er sich in diesem Fall nicht selbst zurechtgemeißelt, sondern empfangen hatte, eher eine Beschwörung als ein Glaubensbekenntnis. Nach all seinen Zweifeln und bohrenden Gedanken und Auflehnungen war es diese Unschuld, die seinen Freispruch
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