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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Seide. Immer noch schnaufend, erhob er sich und schob die Tür auf.
    Auf dem Flur erklang Gelächter. Yamaga und Hayashi eilten an der Tür der Schreibstube vorbei.
    Sano hörte, wie Yamaga sagte: »Heute abend machen wir einen Zug durch Yoshiwara! Die Frauen dort können alle Lüste eines Mannes befriedigen. Alle Phantasien erfüllen.«
    »Dann laß uns bloß nicht zu lange warten!« erwiderte Hayashi.
    Noch einmal hallte das Lachen über den Flur, als die beiden yoriki sich entfernten. Nur noch ein paar anzügliche Worte drangen an Sanos Ohren: »… kleine Hintern … weiche Schenkel …«
    Plötzlich blitzte ein Bild aus der Zukunft vor Sanos innerem Auge auf. Er sah, was geschehen würde, falls er dem Weg folgte, den sein Vater und Ogyū ihm bereitet hatten: Der Verhaltenskodex der Samurai würde für ihn seine Bedeutung verlieren. Er würde wie Yamaga und Hayashi werden, die sich mehr um Mode und Vergnügungen kümmerten als um ihre Arbeit. Früher oder später würde er seine Abteilung von Günstlingen verwalten lassen, während er seine Schreibstube so oft wie möglich verließ, um sich im Vergnügungsviertel mit Prostituierten zu amüsieren. Er würde die Wahrheit der beruflichen Sicherheit opfern und die Gerechtigkeit einem Leben in Wohlstand.
    »Warte!« befahl er Tsunehiko.
    Sano riß seinem verdutzten Schreiber die Papierrolle aus der Hand und zerfetzte sie. Rasch verfaßte er einen neuen Bericht, in dem er die Selbstmorde Noriyoshis und Yukikos als »zweifelhaft« einstufte, so daß genauere Nachforschungen angestellt werden mußten. Dann reichte er Tsunehiko den neuen Bericht und verließ das Zimmer.
    Ohne entsprechende Leistungen zu erbringen, wollte Sano keinen beruflichen Aufstieg – ebensowenig die vielen Vergünstigungen, die blinder Gehorsam ihm einbringen würde. Nein, er wollte die Erregung verspüren, wenn man sich auf die Suche nach der Wahrheit begab – so wie damals, als er noch Lehrer und Forscher gewesen war, oder wie an diesem Morgen, als er die Untersuchungen über die Brandstiftung angestellt hatte. Er wollte das Hochgefühl erleben, etwas Gutes bewirkt zu haben, indem er eine Wahrheit aufdeckte. Irgendwie mußte er seine persönlichen Wünsche mit dem »Weg des Kriegers« und den damit verbundenen Verpflichtungen gegenüber der Familie und den Vorgesetzten in Einklang bringen.
    Er mußte die Wahrheit über den shinjū herausfinden.

2.
    D
    as Gefängnis von Edo war ein Ort des Todes und der Entwürdigung, an den sich nie jemand freiwillig begab. Auch Sano war noch niemals dort gewesen, und er wäre auch an diesem Tag nicht zum Gefängnis geritten. Doch er wußte, daß man die Körper Noriyoshis und Yukikos in die dortige Leichenhalle gebracht hatte. Vom Pferderücken aus betrachtete Sano das Bauwerk mit einer Mischung aus Neugierde und Unbehagen.
    Das Tokugawa-Gefängnis lag dicht am Ufer eines engen Kanals, der vor dem Eingangstor einen Wassergraben bildete. Wachttürme ragten an den Ecken der hohen steinernen Mauern auf, die sich aus dem unbewegten Wasser erhoben. Eine dunkle Flüssigkeit unbestimmbarer und vermutlich unsäglicher Natur tröpfelte aus Löchern am unteren Rand der hohen Wände in den Kanal, dicht über der trüben Wasseroberfläche. Giebeldächer ragten über die Wände hinaus. Zeichen der Vernachlässigung legten stummes Zeugnis ab, was den Abscheu der Stadt gegenüber dem Gefängnis und dessen Insassen betraf: Unkraut und Moos wuchsen zwischen den Steinen, viele Dachziegel fehlten, und der Putz bröckelte von den Mauerwänden. Eine wacklige Holzbrücke überspannte den Kanal und endete vor dem Wachthaus und den Pforten eines schweren hölzernen Tores mit dicken Eisenbeschlägen. Rings um den Gefängniskomplex befanden sich die armseligen Behausungen und die tristen, schmutzigen Straßen von Kodemma-cho. In der Nähe des Flusses gelegen, im nordöstlichen Teil Nihonbashis, war Kodemma-cho der ideale Standort für das Gefängnis – so weit vom Palast und dem Verwaltungsviertel entfernt, wie die Sicherheit und Bequemlichkeit es gerade noch erlaubten.
    Sano war fast dankbar für die schrillen Schreie der zerlumpten Kinder, die auf den Straßen spielten, und für den ranzigen Geruch des Essens, das auf Hinterhöfen der Behausungen gebraten wurde: Der Lärm und Gestank Kodemma-chos überdeckte sämtliche Geräusche und Gerüche, die aus dem Gefängnisgebäude drangen. Ein eisiger Schauer rieselte Sano über den Rücken, als er an Geschichten dachte, die er über die

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