Der Kirschbluetenmord
entspannte sich Sano – als plötzlich eine Tür aufflog. Zwei Wärter stürmten an ihm vorbei. Sie hielten einen nackten, bewußtlosen Gefangenen zwischen sich gepackt und zerrten ihn über den Gang. Dem Mann lief Blut aus der Nase; frische Schnittwunden bedeckten seinen Oberkörper. Die Wärter öffneten die Tür zu einer Zelle und stießen den Mann hinein. Als Sano vorüberkam, erhaschte er einen Blick auf fünf ausgemergelte Männer, die sich in der beengten Zelle in einem Haufen Dreck und Unrat drängten. Voller Entsetzen wandte Sano den Blick ab. Konnte jemand eine derart unmenschliche Behandlung verdient haben? Gab es für die Regierung keine andere Möglichkeit, ihre Untertanen zu Recht und Ordnung anzuhalten, als diejenigen zu foltern, zu demütigen und auszuhungern, die gegen ein Gesetz verstoßen hatten? Zwar waren die meisten Haftstrafen kurz, doch dies war ein zweifelhafter Segen: Viele Gefangene wurden nach der Verhandlung hingerichtet. Es erfüllte Sano mit Furcht, einer Regierung zu dienen, die solche Dinge tat. Er versuchte, nicht daran zu denken.
Schließlich führte der Eta ihn gnädigerweise hinaus an die kalte, frische Luft. Erleichtert holte Sano tief Atem. Sie waren auf einen weiteren Hof gelangt, der von einem hohen Zaun aus Bambus umgeben war.
»Die Leichenhalle, Herr.« Der Eta öffnete die Tür eines Gebäudes mit Strohdach und bedeutete Sano, ihm zu folgen.
Sano zögerte. Was immer ihn in der Leichenhalle erwartete – er hatte Angst, der Anblick könnte noch schlimmer sein als alles, was er bis jetzt schon gesehen hatte. Doch als er ins Innere trat, stellte er fest, daß es sich lediglich um einen nüchternen Raum mit Holzfußboden handelte; an den Wänden standen Schränke und Tröge aus Stein, und in der Mitte befanden sich zwei hüfthohe Tische mit erhöhten Kanten.
Ein Mann stand am offenen Fenster, das Profil Sano zugewandt, und las im verblassenden Licht des Nachmittags in einem Buch. Er trug einen langen, dunkelblauen Umhang, die traditionelle Uniform der Ärzte; dazu einen grauen Schal über den Schultern, um sich vor der klammen Kälte im Zimmer zu schützen. Der Mann wandte sich zur Tür um. Beim ersten Blick in sein Gesicht durchfuhr Sano schockhaftes Wiedererkennen.
Der Mann mochte um die siebzig Jahre alt sein. Er besaß eine hohe Stirn und vorstehende Wangenknochen. Tiefe Falten verliefen zu beiden Seiten der langen, asketischen Nase bis zum schmalen Strich des Mundes. Das kurze weiße Haar lichtete sich an den Schläfen, war ansonsten aber noch dicht und voll. Für einen Moment betrachteten die klugen Augen des Mannes Sano mit Mißfallen; dann schaute er wieder in sein Buch, als wäre er über die Störung verärgert. Sano folgte dem Blick des Alten und sah ebenfalls in das Buch. Als er nähertrat, erkannte er darin die Zeichnung eines menschlichen Körpers, die von Worten in einer fremden Sprache bedeckt war.
Beim Anblick des ausländischen Buches, des charakteristischen Äußeren des Mannes und seiner Uniform wußte Sano sofort, wen er vor sich hatte. Vor zehn Jahren hatte er beobachtet, wie dieser Mann in Schimpf und Schande durch die Straßen Edos geschleift worden war. Damals hatte Sano das Gesicht dieses Mannes auf allen öffentlichen Mitteilungstafeln der Stadt sowie auf Flugblättern gesehen, welche die Nachrichtenverkäufer verteilt hatten.
»Doktor Itō Genboku!« stieß Sano hervor. »Aber ich dachte …« Er hielt inne, denn er wollte den Arzt nicht durch persönliche Bemerkungen beleidigen.
Vor fünfzig Jahren hatte die Regierung eine Politik der strikten Isolation von der Außenwelt begonnen. Iemitsu, der dritte Tokugawa-Shōgun, wollte dem Land nach dem jahrelangen Bürgerkrieg innere Festigkeit verleihen. Aus Furcht, daß machtgierige Daimyō mit Hilfe fremdländischer Waffen und militärischer Unterstützung sein Regime stürzen könnten, hatte Iemitsu die portugiesischen Kaufleute und Missionare sowie sämtliche anderen Ausländer aus Japan vertrieben und das Land von jedem fremdländischen Einfluß gereinigt. Lediglich den Holländern hatte man Handelsrechte belassen. Die Kaufleute durften sich jedoch nur auf der Insel Dejima in der Bucht von Nagasaki aufhalten; sie wurden Tag und Nacht streng bewacht, und die Kontakte mit den Japanern wurden auf die engsten Gefolgsleute des Shōgun beschränkt. Bis zum heutigen Tag waren in Japan ausländische Bücher verboten, und jeder, der sich mit einer fremdländischen Wissenschaft beschäftigte, mußte mit
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