Der Kirschbluetenmord
Fürstin Niu, die der Menschenjagd ein Ende hätte setzen können, lag tot und verstümmelt auf dem blutüberströmten Fußboden ihres Zimmers – ein Anblick, der Sano für den Rest seines Lebens verfolgen würde. Selbst mit dem Brief der Fürstin und der Liste mit den Namen der Verschwörer konnte Sano es nicht riskieren, an den Magistraten, die Polizei oder die Palastwache heranzutreten; wahrscheinlich würde man ihn töten, bevor er die Verantwortlichen von der Notwendigkeit überzeugen konnte, Truppen nach Yoshiwara zu schicken, um Tokugawa Tsunayoshi zu schützen.
Sehnsüchtig dachte Sano an die Schüler seines Vaters und an seinen Freund Koemon. Sie alle waren tapfere und hervorragende Kämpfer, der Familie ihres Lehrers treu ergeben. Sie waren genau die Verbündeten, die Sano jetzt gebraucht hätte. Doch es war unmöglich gewesen, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Denn gerade in der Gegend, in der Sano aufgewachsen war, durfte er sich nicht blicken lassen. Mit Sicherheit gingen die dōshin dort Streife – für den Fall, daß er zurückkehrte.
Als Sano sich einem der Tore Yoshiwaras näherte, sah er, daß es weit geöffnet und praktisch unbewacht war. An einer Seite des Tores hatte sich eine Gruppe Männer zusammengesetzt: zwei Posten, die sich auf ihre Lanzen stützten, und fünf oder sechs weitere Samurai. Alle hielten Trinkschalen oder Reiseflaschen in den Händen. Sano ließ die Zügel klatschen, und das Pferd preschte an den Männern vorüber durchs Tor.
»Halt!« hörte Sano die Posten rufen. Er schaute nicht einmal zurück, um festzustellen, ob die Männer ihn verfolgten.
Das Vergnügungsviertel explodierte um Sano herum in einem Ausbruch von Licht, Geräuschen und wimmelndem Durcheinander. Tausende von Laternen leuchteten von den Dachfirsten der Gebäude entlang der Nakanochō. Männer standen auf den Dächern und schossen Feuerwerksraketen ab. Von einem riesigen, lodernden Freudenfeuer an der Einmündung zur nächsten Querstraße stieg Rauch auf, der in Sanos Richtung trieb und ihm in den Augen brannte, als er versuchte, sein Pferd durch die Menschenmassen zu lenken.
Yoshiwara brodelte von setsubun- Feiernden jeder Art: Samurai in voller Kampfausrüstung; gemeine Bürger, die nichts als Lendenschurze und Sandalen trugen; Gruppen von Musikern und Trommlern. Aus dem Sattel hatte Sano den Eindruck, sich über ein wogendes Meer aus maskierten, auf und ab hüpfenden Köpfen zu bewegen. Musik und Trommeln, Rufe und Lachen vermischten sich zu einer einzigen ohrenbetäubenden, tosenden Geräuschkulisse. Betrunkene taumelten von einer Seite zur anderen über die Straßen und Gassen, erbrachen Reiswein und fügten auf diese Weise der ohnehin stechend nach Urin, alkoholischen Getränken und Schießpulver riechenden Luft eine weitere Duftnote hinzu.
Einige yūjo hatten ihre käfigartigen Zimmer verlassen und sich unter die Menschenmenge gemischt, und Sano mußte sein Pferd zügeln, als eine Parade dieser Mädchen seinen Weg kreuzte. In ihre farbenprächtigsten Kleider gewandet, kicherten sie übermütig, als sie sich spöttisch vor Sano verbeugten. Geröstete Sojabohnen knirschten unter den Schritten zahlloser Fußpaare. Jeder Vergnügungsbetrieb hatte geöffnet und war bis zum Bersten gefüllt. Lachsalven erklangen aus den Teehäusern, und hinter den Fenstern der Bordelle fanden wilde, ausgelassene Feiern statt.
Sano biß die Zähne zusammen, als er die Parade der yūjo umritt – nur um von einer großen Zuschauergruppe, die sich um einen Jongleur versammelt hatte, erneut zum Halten gezwungen zu werden. Verzweifelt ließ er den Blick über die Menschenmenge schweifen. Wie sollte er in diesem Inferno jemals Tokugawa Tsunayoshi und Fürst Niu finden? Wenigstens, tröstete er sich, kann die Polizei dich in diesem Gewimmel nie und nimmer erwischen.
Doch er mußte seinen Irrtum einsehen, als er einen dōshin vor jenem Teehaus stehen sah, in dem mit »Frauen-Sumo« geworben wurde. Seiner alltäglichen Arbeitskleidung und seines nüchternen Auftretens wegen war der dōshin eine auffällige Erscheinung inmitten des Trubels. Soeben hatte er sich einen Samurai vorgeknöpft, der aus einem Teehaus gekommen war, und brüllte dem verschüchterten Mann seine Fragen ins Gesicht. Ganz in der Nähe hatten die Helfer des dōshin einen zweiten, berittenen Samurai angehalten. Sano beobachtete, wie die Männer ihr Opfer vom Pferd zerrten und ihm die Tigermaske vom Gesicht rissen. Einer drückte dem Samurai die Spitze
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