Der Kirschbluetenmord
rutschte der gebauschte goldene Ärmel des Gewands zurück und enthüllte mehrere Kimonos, die übereinander getragen wurden und die Farben rot, grün, blau und weiß aufwiesen.
In dem Augenblick, als Sano Tokugawa Tsunayoshi erkannte, wurde er von der Menschenmenge eingezwängt. Drei Samurai bewegten sich auf ihn zu und räumten dem Shōgun den Weg frei. Sie waren maskiert, trugen aber die übliche Kleidung. Sechs weitere Leibwächter – drei berittene Männer und drei weitere zu Fuß – deckten ihrem Herrn den Rücken und die Flanken. Sano stieß die Zuschauer zur Seite, die zwischen ihm und der Straßenmitte standen. Er mußte den Shōgun abfangen, bevor dieser in der Menge verschwand.
»Hört auf zu schubsen!« rief jemand und stieß Sano zurück bis gegen ein Geländer.
»Macht Platz! Macht Platz!« riefen die Leibwächter des Shōgun.
Sano band die Zügel seines Pferdes am Geländer fest. Dann drängte er sich zwischen zwei Zuschauern am Straßenrand hindurch. Der vorderste Leibwächter näherte sich ihm. Ein Ellbogen stieß unbeabsichtigt Sanos Maske ein Stück zur Seite. Als er sie geraderückte, sah er, wie der Leibwächter innehielt und auf einen Zuruf von hinten den Kopf drehte.
Ein dōshin erschien neben dem Leibwächter. Die beiden Männer begannen ein Gespräch, in das sich die zwei anderen Posten einschalteten, die vornweg liefen, wobei sie sich gegenseitig ins Ohr riefen, um den Lärm der Menge zu übertönen. Sano konnte nicht hören, was die Männer sagten; aber er konnte es sich vorstellen. Der dōshin erkundigte sich bei den Leibwächtern nach einem bestimmten gefährlichen Verbrecher, der sich auf der Flucht befand.
Sano kämpfte sich weiter nach vorn. Wie groß das Risiko für ihn selbst auch sein mochte – er mußte diese Gelegenheit nutzen, den Shōgun zu warnen. Die Verschwörung der Einundzwanzig konnte jeden Augenblick zum tödlichen Schlag ausholen.
In diesem Moment ertönte ein dumpfer Gongschlag in der Ferne. Sofort senkte sich Stille über die Menge; die Leute hielten schlagartig beim Trinken und Tanzen, Reden und Lachen inne. Köpfe hoben sich und lauschten in gespannter Erwartung, darunter auch der Shōgun und seine Begleiter. Ein weiterer Gongschlag ertönte; dann noch einer. Plötzlich erwachte die Nacht durch den Lärm von Millionen Gongs und Glöckchen zum Leben. Einige besaßen einen hohen, lieblichen Ton; andere klangen tief und sonor. Ein tausendfacher Jubelschrei donnerte über das Vergnügungsviertel hinweg. Es war Mitternacht, und die Priester in sämtlichen Tempeln Edos hatten begonnen, das Übel des alten Jahres auszutreiben und für das neue Jahr das Gute herbeizuläuten. Das Glockengebimmel und die Gongschläge hallten von den fernen Hügeln wider und ließen den Boden erbeben und die Luft erzittern.
Wie alle anderen in der Menge lauschte auch Sano. Für den Augenblick war auch er von dieser Ehrfurcht gebietenden Musik in den Bann geschlagen. Plötzlich nahm er im rechten oberen Winkel seines Blickfelds eine Bewegung wahr. Er hob den Kopf.
Ein Samurai, in schwarze Umhänge und Beinlinge gekleidet und mit einer Maske vor dem Gesicht, kroch über ein Hausdach hinweg. Während Sano beobachtete, nahm der Mann eine kniende Haltung ein und zog einen Pfeil aus einem Köcher, der von seiner Schulter hing. Er legte den Pfeil auf seinen Bogen, spannte die Sehne und zielte auf den Shōgun.
»Gebt acht, Hoheit!« rief Sano und zeigte zum Dach hinauf. »Dort oben! Auf dem Dach!«
Seine Warnung ging im Lärm der Gongs und Glöckchen unter. Doch wenngleich er nicht einmal die eigene Stimme hören können, rief er weiter.
»Hoheit!« brüllte er. »Vorsicht!«
Doch Sanos Schreie gingen unter, und niemand, der mehr als drei Schritte von ihm entfernt stand, vermochte ihn zu sehen. Kurz entschlossen wühlte er sich zu seinem Pferd durch, schwang sich auf den Rücken des Tieres und trieb es durch die dichte Masse menschlicher Leiber hindurch. Er stellte sich in die Steigbügel, rief und gestikulierte heftig. Niemand rührte sich. Die Leute konnten sich einfach nicht bewegen. Noch immer dröhnten und klingelten die Gongs und Glöckchen. Der Shōgun hatte den Blick verzückt zum Himmel gerichtet, und Sano erkannte plötzlich mit wachsendem Entsetzen, daß zwei weitere Bogenschützen auf anderen Dächern Stellung bezogen hatten.
»He!« brüllte er. »Ihr da oben! Nicht schießen!«
Seine Rufe fielen genau in eine winzige Pause im Klingeln der Glocken und Dröhnen der Gongs.
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