Der Kirschbluetenmord
seiner Lanze an den Hals, während ein anderer ihm den Umhang vom Leib zerrte.
Sano wendete sein Pferd und kämpfte sich einen Weg zur gegenüberliegenden Straßenseite frei. Beide Samurai besaßen in etwa seine Größe, seinen Körperbau und sein Alter; und der Berittene hatte, wie auch Sano, auf einem braunen Pferd gesessen. Die Polizei hielt alle Männer an, auf die seine Beschreibung paßte, und überprüfte sie! Toda Ikkyu, der metsuke, leistete offenbar ausgezeichnete Spionagearbeit; er mußte der Polizei Sanos Besuch gemeldet und den Beamten von dem Seil und der Sandale erzählt haben, die Sano bei sich trug – ein besserer Beweis für seine Identität als irgendwelche Schriftstücke, die möglicherweise gefälscht oder gestohlen waren.
Sano erkannte, daß er diese verräterischen, belastenden Gegenstände so schnell als möglich loswerden mußte – wie auch das Pferd. Dennoch brachte er es nicht über sich, eines der Beweismittel für die Verwicklung der Nius in die Morde fortzuwerfen; ebensowenig hatte er den Wunsch, sich von Wadas Pferd zu trennen. Vielleicht hatte er ja doch noch eine Chance, das Tier zurückzugeben und die Beweisstücke dem Rat der Ältesten vorzulegen, um auf diese Weise seinen und Raikōs Namen reinzuwaschen, seine Ehre und sein Amt zurückzuerlangen und damit die Gesundheit seines Vaters wiederherzustellen.
Mit Schwierigkeiten lenkte Sano das Pferd durch die Menge und nahm seine Suche wieder auf. Er hatte früher einmal eine bebilderte Version der Geschichte von Genji gelesen und wußte daher in etwa, wie der Shōgun heute abend gekleidet sein würde. Die Frauen dieser versunkenen Epoche vor etwa vierhundert Jahren hatten mehrere Kimonos übereinander getragen, ohne Schärpen – fünf oder sechs, jeder von einer anderen Farbe; dazu wallende Gewänder, die über den Boden schleiften und so weite Ärmel besaßen, daß sie die Hände verhüllten. Dazu trugen die Frauen ihr Haar lang und lose und in der Mitte gescheitelt. Doch wo war der Shōgun? Was tat er?
Sano versuchte, sich in Tokugawa Tsunayoshis Rolle zu versetzen. Wohin würde er gehen, wenn er ein Mann wäre, der die Last der Macht und des Ruhms wenigstens für einen Abend ablegen wollte? Die kunstvolle Kostümierung legte den Verdacht nahe, daß der Shōgun sich einfach nur unter die Feiernden auf den Straßen und in den Teehäusern mischen wollte – durch eine Verkleidung vor Feinden oder Bittstellern geschützt, die nicht so leicht zu durchschauen war wie eine schlichte Gesichtsmaske. Der Shōgun konnte überall sein, wenngleich er bestimmt nicht allein unterwegs war. Leibwächter würden bei ihm sein; wahrscheinlich waren sie mit Kostümen bekleidet, die der gleichen geschichtlichen Epoche nachempfunden waren wie die Frauenkleider des Shōgun. Auf diese spärlichen Vermutungen gestützt, kämpfte Sano sich den Weg die Straße hinunter frei. Er hoffte inständig, daß Fürst Niu keine genaueren Informationen über die Pläne des Shōgun besaß als er selbst.
Wo steckten Niu Masahito und seine Mitverschwörer? An ihrer Stelle hätte Sano dem Shōgun schon vor den Toren des Vergnügungsviertels einen Hinterhalt gelegt, um den Anschlag rasch und sauber verüben zu können und eine schnelle Flucht zu ermöglichen, fern von dem Lärm, den Menschenmengen und dem Durcheinander. Dennoch wagte Sano keine Voraussage, was die Pläne eines Verrückten wie Niu Masahito betraf. Außerdem hatte er nicht die leiseste Ahnung, welche Verkleidungen die Verschwörer trugen.
Sano sah ein, daß er das gesamte Viertel nie und nimmer rechtzeitig würde durchsuchen können, mochte er sich noch so sehr beeilen. Deshalb sprach er einfach Leute an, die ihm begegneten. »Habt Ihr eine Gruppe gesehen, die …«, rief er und ließ eine kurze Beschreibung des Shōgun und seiner Begleiter folgen, so, wie er sich diese Gruppe vorstellte. Die Antworten, die Sano bekam, reichten von: »Nein. Ja. Schon möglich. Keine Ahnung«, die er von einem betrunkenen Kaufmann erhielt, bis: »Sei nicht so ernst, Mann! Trink einen mit!« von einem rüpelhaften jungen Samurai – und waren zum größten Teil unbrauchbar.
Dann antwortete der Türsteher eines Freudenhauses: »Eine altmodisch gekleidete Dame, sagt Ihr? Warum sucht Ihr sie, wo Ihr hier doch so viele hübsche junge Mädchen haben könnt?«
Die Erwähnung der Mädchen und der Anblick der yūjo -Parade erinnerten Sano an Wisterie. Sie hatte ihm schon einmal geholfen; vielleicht würde sie es wieder
Weitere Kostenlose Bücher