Der Kirschbluetenmord
tun. Wisterie mußte in Yoshiwara viele Freunde haben, die sich an der Suche beteiligen konnten, und genug Bewunderer im Range eines Samurai, um sich Fürst Niu und seinen Leuten zu erwehren. Sano schlug die Richtung zum »Palast des Himmlischen Gartens« ein. Bald darauf entdeckte er eine weitere Versammlung von yūjo, die sich vor einem Teehaus gebildet hatte. Freude und Besorgnis durchströmten ihn gleichermaßen, als er schließlich Wisterie entdeckte.
Doch wären ihre unverwechselbaren runden Augen nicht gewesen, hätte Sano sie nicht wiedererkannt. Sie trug einen schlichten Kimono aus Baumwolle und war viel magerer und blasser geworden. Neben ihr stand ein schwankender, sehr betrunkener Mann. Während Sano die Szene beobachtete, umarmte der Mann Wisterie; seine Hand grapschte nach ihren Brüsten. Wisteries Gesicht war zu einer unbewegten Grimasse verzogen, die nur entfernt an ein Lächeln erinnerte.
Sano hatte keine Zeit, sich die Frage zu stellen, weshalb diese hochrangige Schönheit so tief gesunken war. »Edle Wisterie!« rief er.
Irgendwie gelangte er an ihre Seite, ohne jemandem auf die Füße zu treten. Wieder rief er ihren Namen.
»Wisterie!« Für einen Augenblick nahm er die Maske ab, so daß sie sein Gesicht sehen konnte. »Erinnert Ihr Euch an mich, Wisterie?«
Ihr falsches Lächeln schwand. »Ihr!« rief sie, und in ihren Augen loderte Haß auf. »Ich habe Euch damals geholfen. Ich habe mich Euch hingegeben. Jetzt schaut Euch an, was aus mir geworden ist!«
Mit der Hand vollführte sie eine zornige Geste, die ihr verhärmtes, abgerissenes Aussehen, ihren schmierigen Kunden und ihren Platz ganz am Ende der Reihe umfaßte. Sano verspürte einen Stich im Herzen, als ihm einfiel, daß er Magistrat Ogyū von seinem Gespräch mit Wisterie berichtet hatte. Ogyū mußte daraufhin befohlen haben, Wisterie von einer gefeierten yūjo zu einer niederrangigen Prostituierten zu degradieren, zu einem gesellschaftlichen Nichts, so daß niemand ihr die geringste Aufmerksamkeit schenken würde, falls sie von der Ermordung Noriyoshis erzählen sollte. Noch ein Leben, ging es Sano durch den Kopf, das du zerstört hast. Aber er durfte nicht zulassen, daß Schuldgefühle oder Mitleid ihn daran hinderten, das zu tun, was getan werden mußte.
»Vergebt mir, edle Wisterie. Ich brauche noch einmal Eure Hilfe. Ich muß jemanden finden, der …«
»Kommt mir nicht zu nahe!« schrie sie ihn an. »Ihr habt schon genug Unheil angerichtet!«
Sie riß sich von ihrem Kunden los, warf sich herum und flüchtete. Da sie so klein und zerbrechlich war, gelang es ihr rasch, sich durch die schmalen Lücken in der Menschenmenge zu zwängen, was dem berittenen Sano verwehrt blieb. Ihm blieb keine Wahl, als Wisterie fliehen zu lassen.
Er wandte sich hastig ab, als er sah, wie ein weiterer dōshin sich durch die Menge wühlte und in seine Richtung kam. Sano stieg vom Pferd, nahm es am Zügel und ging die Straße hinunter. Jetzt, da er nicht mehr im Sattel saß, konnte er auch nicht mehr über die Menge hinwegschauen; andererseits machte sein neuer Aussichtspunkt es den Verfolgern schwerer, ihn zu entdecken, und er konnte in Türeingänge und durch geöffnete Fenster spähen. In den Teehäusern und Eßlokalen sah er viele hochgewachsene, massige Frauen, die in Wahrheit verkleidete Männer sein mußten; doch es war niemand darunter, auf den die Beschreibung des Shōgun gepaßt hätte.
Sano bog um eine Ecke in eine Straße ab, die kaum breit genug war, um vier Männern nebeneinander Platz zu bieten. Die äußere Mauer des Vergnügungsviertels bildete den Abschluß der Straße; leuchtende Laternen, die an Leinen hingen, welche zwischen den Hausdächern gespannt waren, tanzten im kalten Nachtwind. Hier war die Menschenmenge so dicht, daß Sano nicht mehr weiterkam. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. Um ihn herum feierten die Leute mit wachsender Hemmungslosigkeit, während der setsubun sich seinem Höhepunkt näherte. Yūjo riefen den Männern aus ihren vergitterten Zimmern Ermunterungen und Einladungen zu. Der Boden unter Sanos Füßen war glitschig von übelriechendem Schmutz.
Dann sah er einen glänzenden dunklen Kopf, der über die anderen emporragte, ungefähr dreißig Schritt entfernt. Für einen Moment bildete sich eine Lücke in der Menge und gewährte Sano den Blick auf ein großes, unscheinbares weißes Gesicht und langes, wallendes Haar. Die Mann-Frau lächelte und winkte irgend jemandem zu. Dabei
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