Der Kirschbluetenmord
war unvermindert; doch wehe ihm, wenn er die Befehle seines neuen Herrn mißachtete! In der Tat hatte sich nichts geändert – und doch war alles auf erschreckende Weise anders geworden.
Sano nickte und seufzte. »Ich verstehe.«
Er beendete seine ruhelose Wanderung auf der Mauerkrone, nahm den Blick von Doktor Itō und schaute hinaus auf die Stadt.
Über den Dächern Nihonbashis, die von einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren, erhob sich der weiße Turm des Schlosses von Edo, in dem Sano die letzte Nacht verbracht hatte und in dem er nun sehr viele weitere Nächte verbringen würde. Sano mied den Blick auf den Wohnbezirk der Daimyō; statt dessen schaute er auf die Hügel im Westen und auf das Netzwerk der Kanäle, die in allen Himmelsrichtungen verliefen, und auf die dicke, schlammfarbene Ader des Flusses Sumida. Dann blickte er nach Norden, in Richtung Ueno und Yoshiwara, und dann nach Süden, dorthin, wo das Theaterviertel lag. Er betrachtete die winzigen, perspektivisch verkleinerten Gestalten der Menschen, die sich durch die Straßen und Gassen bewegten. Schließlich folgte sein Blick dem Verlauf der Reisestraßen, die aus Edo hinaus in die fernen Provinzen führten.
»Selbst in diesem Augenblick geschieht dort draußen irgend etwas, das Eure Nachforschungen erforderlich machen könnte«, sagte Doktor Itō und faßte damit Sanos Gedanken in Worte.
»Ja.« Sano trat vor bis an den Rand der Mauer. Er hatte das Gefühl, am Abgrund einer ungewissen Zukunft zu schweben. Vielleicht erwartete ihn bereits ein noch gefährlicherer, mächtigerer Gegner, als Fürstin Niu und ihr Sohn Masahito es gewesen waren.
»Ich beneide Euch nicht, Sano -san . Ihr müßt Euch einer schwierigen Herausforderung stellen.«
Gänzlich unerwartet besserte sich Sanos Stimmung. Der Beginn des neuen Jahres war eine Zeit der Hoffnung, wie Doktor Itō gesagt hatte. Es war eine Zeit, die Sano die Möglichkeiten bot, für die Morde zu sühnen, die er mit verursacht hatte. Seine Wunden würden heilen. Die Zeit und die Erfahrung würden ihm das Wissen und die Weisheit vermitteln, die ihm bei der Suche nach der Wahrheit helfen konnten. Sano stellte sich vor, Menschenleben zu retten und weitere Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen und dem Namen seiner Familie noch mehr Ehre zu machen. In seinem Innern regte sich erster, vorsichtiger Optimismus – und einhergehend mit dieser Zuversicht erwachte die Bereitschaft, ja, der Wunsch, seine neuen Verantwortungen auf sich zu nehmen.
»Ich nehme diese Herausforderung an«, sagte er.
GLOSSAR
amazake – süßes, vergorenes Reisgetränk, das traditionell zu Festlichkeiten, z. B. beim Neujahrsfest (→ setsubun), getrunken wurde.
bushidō – der »Weg des Kriegers«; Ehren- bzw. Verhaltenskodex der Samurai (bushi), was die geforderte militärische Gesinnung und Fertigkeit (bu) sowie die Gelehrsamkeit (bun) betrifft. Mit der zunehmenden Einbindung der Samurai als »Krieger-Beamte« während der Tokugawa-Zeit (→ Tokugawa Tsunayoshi) erfuhr der bushidō bestimmte Veränderungen (z. B. eine stärkere Hervorhebung der Gelehrsamkeit und Bildung).
-chart – Koseform (entspricht etwa dem deutschen -chen).
chichive und hahave – förmliche Anreden des Vaters und der Mutter; Ausdrücke der Ehrerbietung.
daimyō – z. T. adeliger Feudalherr mit einem Lehns- und Burgbesitz (→ koku).
dōshin – Polizeibeamter niederen Ranges; eine Art »Streifenbeamter«, der von Helfern begleitet wurde; Untergebener des → yoriki.
eta – gesellschaftlich Ausgestoßene, die als »spirituell unrein« betrachtet wurden und in Elendsvierteln am Rande der Städte wohnten. Eta durften nur innerhalb ihrer eigenen sozialen Schicht heiraten und besaßen somit keine Möglichkeiten zu gesellschaftlichem Aufstieg. Oft übten die Eta Berufe aus, die mit dem Tod zu tun hatten, z. B. den Beruf des Metzgers, Gerbers oder Leichenbestatters.
Genroku -Periode – Die Tokugawa-Epoche (1603-1867) war unter anderem von einer wachsenden Verstädterung gekennzeichnet, die eine eigene Literatur und bildende Kunst hervorbrachte. Die Genroku-Periode (1688-1705) gilt als kunsthistorisch bedeutsame Blütezeit.
Geschichte von Genji – eig. »Die Geschichte vom Prinzen Genji« (Genji monogatari); Prosawerk der Dichterin Murasaki Shikibu, das um das Jahr 1000 entstand und in dem das höfische Leben während der Heian-Periode (794-1185) geschildert wird.
giri-ninjō -Konflikt – klassischer Konflikt zwischen der Pflicht (giri) und
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