Der Kirschbluetenmord
selbst davor, allzu sehr darüber nachzugrübeln, wieviel ich verloren habe.«
Sie gelangten an das Ende der Treppe und gingen über die breite, flache Mauerkrone. Der Wind ließ ihre Gewänder flattern, als sie den Blick über die Stadt schweifen ließen.
»Es ist wunderschön, nicht wahr?« sagte Doktor Itō mit leiser Stimme. »Der Beginn des neuen Jahres ist eine Zeit der Hoffnung, und meine Hoffnung besteht darin, daß ich eines Tages die Freiheit wiedererlange.« Er drehte sich zur Seite und richtete seinen durchdringenden Blick auf Sano. »Aber Ihr seid ja nicht hierher gekommen, um Euch meine Sorgen und Wünsche anzuhören.«
Ermutigt von der Aufmerksamkeit und der anregenden Präsenz seines Freundes, erzählte Sano, wie er setsubun verbracht hatte. Doktor Itō hörte ihm schweigend zu. Als Sano geendet hatte und den alten Arzt anschaute, um dessen Reaktion zu beobachten, nickte Doktor Itō.
»Und deshalb seid Ihr ein Held«, sagte er. »Aber nicht nach Eurer eigenen Einschätzung, wie mir scheint.«
Die scharfsinnige Bemerkung ließ den Damm brechen, hinter dem Sano bislang seine Gefühle zurückgehalten hatte. »O ja, ich bin ein Held«, sagte er voller Bitterkeit. »Ich habe dem Shōgun das Leben gerettet, und ich habe einen Verräter getötet. Vielleicht habe ich sogar den Zusammenbruch der Tokugawa-Regierung und neuerliche fünf Jahrhunderte Bürgerkrieg verhindert. Ich habe die Mörderin gefunden und den Tod über sie gebracht. Aber wegen mir mußten drei unschuldige Menschen sterben. Tsunehiko. Raikō. O-hisa. Sie alle sind Opfer meines Strebens, das ich als notwendige Suche nach der Wahrheit betrachtet habe. Dabei wollte ich nur meiner Eitelkeit schmeicheln!
Hätte ich gewußt, daß diese Menschen ihr Leben lassen, hätte ich mich wahrscheinlich anders verhalten. Ich hätte den shinjū einen shinjū bleiben lassen. Ich war ein Dummkopf – ein eitler, selbstgefälliger Narr –, und ich habe den gerechten Lohn dafür bekommen!« Von Verzweiflung und Selbstverachtung überwältigt, begann Sano, auf der Mauerkrone auf und ab zu schreiten.
Doktor Itō trat ihm in den Weg, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück. »Ich kann gut verstehen, was Ihr fühlt und warum Ihr es fühlt«, sagte er. »Aber solche Selbstvorwürfe sind sinnlos. Ihr habt Eure Pflicht getan – jenem Herrn gegenüber, dem Euer höchster Treueschwur als Samurai gilt. Vielleicht war es den anderen bestimmt, zu sterben – so, wie es Euch bestimmt war, das Leben des Shōgun zu retten. Ihr werdet es niemals erfahren.«
Sano schüttelte den Kopf. Das Mitleid und Verständnis Doktor Itōs konnten ihm nur wenig Trost spenden – und schon gar nicht das Gefühl, von seiner Schuld freigesprochen zu sein. Doch allmählich begriff er die Gründe dafür, daß die Aussicht, als Sonderermittler des Shōgun tätig zu sein, ihm so sehr zu schaffen machte.
»Als ich dem Shōgun das Leben gerettet hatte – und als ich Fürst Niu tötete –, da glaubte ich, meine Sorgen wären vorüber«, sagte er und suchte nach den richtigen Worten. »Die Sorge, sich ständig zwischen der Pflicht und den persönlichen Wünschen entscheiden zu müssen – wobei diese Entscheidung, wie sie auch ausfallen mag, nie vollkommen richtig oder falsch zu sein scheint. Die Sorge, Nachforschungen anzustellen, ohne zu wissen, wohin sie führen oder wem sie Schaden zufügen. Das Wissen, eine Arbeit zu tun, für die ich nicht ausgebildet bin, so daß nur mein Instinkt mich leiten kann. Die ständige Furcht, nicht nur das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, sondern auch die Ehre. Die Angst, statt Ruhm und Erfolg den Tod und die Schande zu finden.«
Er lachte – ein trostloser, verzweifelter Laut, der aus den Tiefen seiner Seele aufstieg. »Und was habe ich erreicht? Daß ich nun zur Belohnung ein Amt bekleide, das mich erneut vor alle diese Probleme stellt. Es hat sich nichts geändert!«
»Wirklich nicht?«
Sano schaute seinen Freund an, sah den spöttischen Ausdruck auf dessen Gesicht und begriff augenblicklich, was Doktor Itō mit seiner knappen Bemerkung meinte: Mit der Macht des Shōgun im Rücken hatte auch er, Sano, gewaltige Macht über das Leben anderer Menschen. Von nun an würde er noch viel größere Möglichkeiten haben, Schicksale zu beeinflussen, Gefahren gegenüberzutreten und gefährlichen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Seine innere Auseinandersetzung würde noch heftiger werden. Sanos Verlangen, die Wahrheit aufzudecken,
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