Der Kirschbluetenmord
daß der Tod der Frau ebenso notwendig gewesen war wie der ihres Gefährten. Doch er konnte ihre Schönheit nicht betrachten, ohne einen Stich von Trauer zu verspüren …
Ein scharfes, pochendes Geräusch ließ ihn aufschrecken. Kam jemand über die Anlegestelle in seine Richtung? Das Pochen wiederholte sich: zwei lange, kräftige Schläge, gefolgt von drei leichteren, rasch aufeinander folgenden. Der Mann entspannte sich. Es war nur der Nachtwächter, der irgendwo an Land mit seinem hölzernen Stecken auf den Boden gepocht hatte, um die Uhrzeit zu vermelden. Das Wasser hatte das Geräusch verstärkt.
Der Mann nahm eine kleine, flache Schachtel aus Lack aus seinem Umhang und schob sie unter die Schärpe der Frau. Dann packte er beide Körper zugleich, hob sie in die Höhe und rollte sie über den Bootsrand. Ein gedämpftes Klatschen ertönte, als die Leichen ins dunkle Wasser fielen. Bevor sie versinken konnten, ergriff der Mann das Ende des Seils, mit dem die Hand- und Fußgelenke der Toten aneinander gefesselt waren, band es um den Pfahl und klemmte es in einer Spalte im aufgeweichten, pilzbewachsenen Holz fest. Er warf einen Blick auf die zwei Leichen, die nun dicht unter der Wasseroberfläche trieben, in einem sanft wogenden Gespinst, das vom langen Haar der Frau gebildet wurde. Dann schaute der Mann zurück zur Brücke.
Und nickte zufrieden. Wenn man die Toten entdeckte – und das würde schon bald der Fall sein –, würde jeder vermuten, daß der Mann und die Frau gemeinsam von der Brücke in den Tod gesprungen und mit der Strömung den Fluß hinuntergetrieben waren, bis das Seil, mit dem sie sich aneinander gefesselt hatten, am Pfahl hängengeblieben war. Der versiegelte Brief in dem wasserdichten Kästchen aus Lack würde diesen Eindruck untermauern. Ein letztes Mal blickte der Mann auf den Pfahl, um sich zu vergewissern, daß das Seil hielt. Dann band er das Boot los und machte sich auf die lange, kalte Rückfahrt stromaufwärts.
1.
Y
oriki Sano Ichirō, der neueste Bezirksvorsteher der Polizei von Edo, ritt langsam über die Nihonbashi-Brücke. Am frühen Morgen dieses sonnigen, klaren Wintertages wimmelte es um ihn herum von Menschen: Lastenträger, die Körbe voller Gemüse zum Markt brachten; Wasserverkäufer, die hölzerne Stangen über den Schultern trugen, an deren Enden Eimer hingen; Kunden und Händler aller Art beugten sich unter den Lasten auf ihrem Rücken. Die Planken der Brücke dröhnten und bebten unter den Schritten holzbesohlter Sandalen; die Luft war erfüllt von Rufen, Gelächter und Stimmengewirr. Selbst Sanos Status als Samurai, den bestimmte äußere Merkmale erkennen ließen, ermöglichte ihm kein schnelleres Vorankommen. Sein Pferd, eine braune Stute, hob ihn nur um weniges über die wogenden Köpfe der Menge empor. Die zwei Schwerter, die er trug – ein Langschwert mit gekrümmter Klinge sowie ein kürzeres, dolchartiges Schwert – bewirkten nur hier und da ein gemurmeltes: »Ich bitte um Vergebung, ehrenwerter Herr.«
Doch Sano genoß den gemächlichen Ritt und seine Freiheit. Endlich einmal war er der Langeweile entronnen, die seinen ersten Monat im Amt des yoriki gekennzeichnet hatte. Als einstiger Lehrer und Geschichtsgelehrter hatte Sano rasch erkannt, daß die Verwaltungsarbeit in seinem kleinen Polizeibezirk ihn längst nicht so ausfüllte wie das Studium alter Texte oder die Lehrtätigkeit an der Knabenschule. Er vermißte seinen alten Beruf. Der Gedanke, nie mehr einer verlorenen oder geheimnisvollen Fährte in die Vergangenheit zu folgen, hinterließ eine bittere, schmerzhafte Leere in seinem Innern. Hinzu kam, daß er nicht aufgrund besonderer Begabungen oder gar aus freiem Entschluß, sondern familiärer Umstände und Verbindungen wegen in die ihm unbekannte Welt des Polizeidienstes eingetreten war. Doch er hatte sich geschworen, das Beste daraus zu machen.
An diesem Tag wollte Sano seinen neuen Zuständigkeitsbereich persönlich in Augenschein nehmen, statt in seiner Amtsstube zu sitzen und die Berichte seiner Untergebenen mit Dienstsiegeln zu versehen. Voller erwartungsvoller Neugier blickte er über das Brückengeländer auf das Panorama der Stadt Edo.
Auf dem breiten, von weißgetünchten Lagerhäusern gesäumten Kanal wimmelte es von Barken und Fischerbooten. Der Rauch aus zahllosen Kohlebecken und Herdstellen bildete einen Dunstschleier über den niedrigen Ziegel- und Strohdächern, die sich in allen Himmelsrichtungen über die Ebene
Weitere Kostenlose Bücher