Der Kirschbluetenmord
Verhältnisse in diesem Gefängnis gehört hatte. Er holte tief Atem und trieb sein Pferd auf die Brücke.
Im Wachthaus entstand Bewegung, als Sano dort anlangte. Während er vom Pferd stieg und die Zügel um einen Pfahl schlang, drängten drei Wächter so hastig durch die Tür, daß sie beinahe übereinander gestolpert wären. Sano bemerkte, wie die Männer verwunderte Blicke tauschten, als sie ihn erkannten. Dann verbeugten sie sich tief.
»Wir stehen Euch zu Diensten, Herr«, sagten die Wächter wie aus einem Munde.
Sano betrachtete die Männer: ihr ungepflegtes Äußeres, ihr kurz geschorenes Haar, die häufig ausgebesserten ledernen Harnische und Beinlinge sowie die Schwerter, die sie an der Hüfte trugen. Diese Männer waren gemeine Bürger – möglicherweise ehemalige kleine Ganoven, denen man erlaubt hatte, Waffen zu tragen, damit den Samurai ein so erniedrigender Dienst erspart blieb.
»Ich bin yoriki Sano Ichirō«, stellte Sano sich vor. »Ich möchte den Beamten sprechen, der für die Leichen des Mannes und der Frau zuständig ist, die den shinjū begangen haben.«
Die Posten starrten Sano mit offenem Mund an. Wahrscheinlich ist noch nie ein yoriki hierher zu Besuch gekommen, dachte Sano bei sich, und erst recht nicht mit einem solchen Ansinnen. Er war sicher, daß seine Amtskollegen dieses Gefängnis nie betraten. Einer der Wächter stieß ein nervöses Kichern aus. Der riesige Mann neben ihm, vermutlich sein Vorgesetzter, schlug ihm kräftig mit dem Handrücken ins Gesicht.
»Worauf wartest du?« fuhr er den Wächter an. »Führe ihn sofort zum Oberaufseher!«
Der Wächter zog die dicken Holzbalken zurück, mit denen das Tor verriegelt war, und öffnete. Sano betrat den Gefängniskomplex, auf das Schlimmste gefaßt.
Doch als er den Blick über das Gelände schweifen ließ, war der erste Eindruck beruhigend. Auf einem schlichten Hof, dessen Boden aus festgestampfter Erde bestand, patrouillierten fünf weitere Wächter. Der Gestank von Urin lag in der Luft, doch es war nicht schlimmer als in der Nähe der öffentlichen Aborte auf den Nebenstraßen Edos. Dreißig Schritt voraus stand ein schmuddeliges Holzgebäude mit dicken Gittern vor den Fenstern. Als Sano durch eine Brettertür eintrat, sah er am Ende des Eingangsflures ein Zimmer, das im Verwaltungsbezirk von Edo eine Schreibstube hätte sein können, sofern man die schmuddelige Einrichtung und das schäbige Erscheinungsbild der Bediensteten außer acht ließ. Der Wächter führte Sano einen der äußeren Flure hinunter, blieb schließlich vor einer Tür stehen und klopfte an.
»Herein!«
Im Türeingang verbeugte der Wächter sich vor jemandem im Innern des Zimmers und sagte: »Ehrenwerter Oberaufseher, darf ich einen vornehmen Besucher zu Euch führen?« Dann trat er zur Seite, um Sano einzulassen.
Der Oberaufseher, ein untersetzter Mann, der hinter einem Schreibpult saß, das mit Papieren beladen war, reagierte mit einem verdutzten Blick auf Sanos Ersuchen. Dann zuckte er die Achseln und sagte zum Wächter: »Bringe ihn zu den Eta.« Entschuldigend wandte er sich an Sano. »Ich muß Euch bitten, sich draußen mit ihnen zu treffen, yoriki. Die Eta dürfen dieses Gebäude nicht betreten.«
»Natürlich.«
Als Sano dem Wächter zurück auf den Hof folgte, dachte er über diese Gefängnisvorschrift nach. Die Eta waren gesellschaftlich Ausgestoßene. Ihre auf Erbfolge beruhende Verbindung mit Berufen, die mit dem Tod zu tun hatten – dem des Metzgers oder Gerbers, zum Beispiel – machte sie zu spirituell unreinen Menschen. Demzufolge wurden sie von den höherstehenden sozialen Schichten gemieden. Die Eta lebten abseits vom Rest der Bevölkerung in Elendsvierteln am Rande der Stadt. Sie durften nur jemanden aus ihrer eigenen sozialen Klasse heiraten, und sie hatten keine Möglichkeit zu gesellschaftlichem Aufstieg. Die Eta erledigten die schmutzigsten und niedersten Aufgaben: das Leeren von Jauchegruben, das Einsammeln von Müll, das Bergen der Toten nach Überschwemmungen, Feuersbrünsten und Erdbeben – und sie stellten die Belegschaft des Gefängnisses und der Leichenhalle. Daher hatte Sano gewußt, daß die Eta für die Leichen Yukikos und Noriyoshis zuständig waren, doch ihm war neu, daß den Eta sogar das Betreten bestimmter Bereiche des Gefängnisses untersagt war.
»Wartet hier bitte, Herr.« Der Wächter verschwand um eine Gebäudeecke. Kurz darauf kam er mit drei Männern zurück, die identische, kurze, ungebleichte Kimonos
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