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Illettrismus
Mit einem Bier in der Hand schlenderte Boris gemütlich zu der Bank, die vor dem Gebäude der Umzugsfirma, bei der er arbeitete, stand. Bei schönem Wetter pflegte er hier den Feierabend mit einem Getränk und einer Kippe einzuläuten, weil das Loch, in dem er wohnte, kaum den Ausdruck Einzimmerwohnung verdiente und ihn deshalb auch nichts nach Hause zog. Er genoss so die letzten Sonnenstrahlen des Tages und ließ es sich einfach gutgehen.
Müde streckte er die Beine aus und schloss für einen Moment die Augen. Der Job als Möbelpacker war kein Zuckerschlecken, doch er war froh, überhaupt eine Möglichkeit zu haben, um Geld zu verdienen. Als gebürtiger Russe und mit lausigem Schulabschluss war es weiß Gott nicht einfach gewesen, eine bezahlte Tätigkeit zu finden. Ohne Job hätte ihm aber irgendwann die Ausweisung gedroht, weshalb er Michail, dem Inhaber der Umzugsfirma, mehr als dankbar war, dass dieser ihn vor bald zehn Jahren eingestellt hatte.
Michail war ebenfalls Russe, hatte sich aber bereits vor Jahren einbürgern lassen. Als alter Bekannter seiner Mutter hatte er sich Boris‘ angenommen und ihm unter die Arme gegriffen. Oft saßen sie nach Feierabend sogar zusammen hier und im Laufe der Jahre war so etwas wie eine Freundschaft entstanden. Aber heute hatte Boris den anderen gar nicht erst dazu aufgefordert, denn es war Michails Bürotag, was bedeutete, dass dessen externer Buchhalter, der einmal im Monat kam, anwesend war, um sich die nötigen Unterlagen abzuholen. An solchen Tagen war Michail ungenießbar.
Grund dafür war, dass Boris‘ Vorgesetzter höllische Angst davor hatte, in irgendeiner Art und Weise den Behörden einen Anlass zu liefern, dass man ihm das Geschäft schließen konnte. Tatsächlich wurde die Umzugsfirma außergewöhnlich oft von der Fremdenpolizei besucht, um Kontrollen bezüglich Schwarzarbeitern zu machen. Für Michail lag aber klar auf der Hand, dass das mit dessen russischen Wurzeln und dem Umstand, dass er fast ausschließlich Leute aus seiner ehemaligen Heimat beschäftige, zu tun haben musste. Deshalb ließ Boris‘ Vorgesetzter einmal pro Monat den gesamten Papierkram von einem Fachmann begutachten und hoffte so, endlich von der Liste der öfters zu überprüfenden Unternehmen gestrichen zu werden.
Ein unterdrücktes Fluchen aus Richtung der Besucherparkplätze ließ Boris die Augen öffnen und nach dem Verursacher der Kraftausdrücke Ausschau halten. Unweit von ihm stand ein Auto, dessen Kühlerhaube weit geöffnet war und über dessen Motorraum sich ein kleiner Mann in Anzughose und weißem Hemd beugte, wobei dieser dabei das Hinterteil in Boris‘ Richtung streckte. Ein Auge zukneifend und eine Hand austreckend fokussierte er den kleinen Knackarsch und kam grinsend zu der Überzeugung, dass dieser perfekt in seine großen Hände passen würde, weshalb er einer Eingebung folgend die Sachen zusammenraffte und langsam zu dem anderen hinüber schlenderte.
„Probleme?“, fragte Boris mit seiner tiefen Stimme und wartete, bis sich der Mann aufrichtete, wobei er feststellen konnte, dass auch die Frontansicht seines Gegenübers äußerst lecker war.
Der Kerl war fast ein Kopf kleiner als er und von beinahe zierlicher Statur. Während die blonden, gewellten Haare mit Gel und einem fürchterlichen Seitenscheitel zu so etwas wie einer Frisur gekämmt worden waren, zeigte sich darunter ein Gesicht mit feinen Zügen, das jedoch einen energischen Mund aufwies. Das Beeindruckendste aber waren die grünen Augen, die zwar hinter einer randlosen Brille versteckt waren, jedoch intelligent blickten. Wenn die biedere Aufmachung also nicht gewesen wäre, hätte man den Mann durchaus als hübsch betiteln können.
„Ja, ähm… Ich weiß auch nicht, ich hatte den Wagen erst vor zwei Wochen in der Werkstatt. Jetzt ist aber der ganze Motor voll Öl, ich denke da muss irgendwo ein Leck sein. Ich sollte wohl besser nicht weiterfahren, denn ohne Schmiermittel könnte das Probleme geben, nicht wahr?“, erklärte sein Gegenüber und lächelte Boris freundlich an, so dass er das Urteil revidieren musste: Dieser Kerl war nicht hübsch, sondern mit diesem Lächeln durchaus als sehr schön zu bezeichnen.
„Absolut richtig. Ohne Schmiermittel sollte man ‚ES‘ auf jeden Fall nicht tun, das könnte schmerzlich
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