Der Klang der Sehnsucht - Roman
der andere fast rannte und mit Gefuchtel versuchte, den Vaid zur Eile anzutreiben. Es sah aus, als kämpfe er gegen einen Moskitoschwarm. Kalu strich mit dem Daumen über den weichen Rand der Banknote. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Geld besessen. Was er damit alles kaufen konnte! Die Flöte, die er beim Panwalla gesehen hatte, und vielleicht noch ein paar süße Barfi für Ganga Ba und Malti.
Malti war Hausmädchen bei Ganga Ba. Morgens wusch sie die Wäsche, und tagsüber erledigte sie alles Mögliche im Haushalt. Währenddessen rief sie immer wieder nach Kalu, damit er für Ganga Ba Lieferungen und Bestellungen erledigte. Malti war mindestens vier Jahre älter und einen Kopf größer als Kalu. Sie war alt genug, um Anweisungen zu geben, was sie gebieterisch und pflichtbewusst tat, und jung genug, um die Welt noch mit Kalus Augen sehen zu können.
Eines warmen, geruhsamen Nachmittags hatte sie Kalu von ihrem ersten Barfi erzählt. Sie hatten genau an dieser Stelle unter dem Baum gesessen. Die meisten Leute schliefen, wenn die Mittagshitze vom Boden aufstieg, und alle Geschäfte hatten geschlossen. Niemand hielt sich mehr auf der Straße auf, und alle suchten Schutz in den Häusern.
Sobald Malti das Geschirr gespült, die Tische abgewischt und die Böden gereinigt hatte, ruhte sie für gewöhnlich wie alle anderen auf den Sadadi, Matten aus Stroh oder Plastik, die jeden Nachmittag auf dem grünen Granitboden des Speisezimmers ausgelegt wurden, wo es am kühlsten war. Wenn die Temperatur etwas fiel, zogen Malti und die anderen häufig auf den Bo
den des Wohnzimmers um, um fernzusehen. Ganga Ba hatte nichts dagegen, solange man sie nicht bei ihrem Mittagsschlaf störte oder ihr sonst Verdruss bereitete.
An jenem Tag war es so heiß gewesen, dass in der Küche und im Speisezimmer gereizte Stimmung herrschte. Als jüngstes Haushaltsmitglied war Malti ein leichtes Opfer für Sticheleien. Obwohl sie in den vergangenen beiden Jahren um einiges gewachsen war, ließen die anderen sie ihre geringe Stellung in der Hierarchie der Dienerschaft nie vergessen.
An windstillen, feuchtheißen Tagen, wenn selbst die Eidechsen ihrem gewohnten Sonnenbad einen schattigen Felsen vorzogen, bekam sie diese besonders zu spüren. Also war sie aus dem Haus geflohen und aus Sehnsucht nach einer kühlen Brise vom Fluss den langen Pfad hinunter zum Banyanbaum gewandert.
Hoch oben in den Ästen des Banyan, vor den Blicken der Dörfler verborgen, hielt Kalu seine Mittagsruhe und amüsierte sich über die Eichhörnchen, die verspielt den Stamm hinauf- und hinunterjagten, als haschten sie nach ihren eigenen Schwänzen. Er beobachtete, wie Malti sich zwischen den Wurzeln niederließ, die Beine mit ihrem Rock bedeckte und sich an den breiten Stamm lehnte, ehe er sich zu ihr hinunterschwang.
»He, Yar.« Kalu lachte, als Malti zusammenfuhr.
»Erschreck mich doch nicht so! Tu das nie wieder.« Sie boxte leicht gegen seinen Arm, bevor sie sich wieder zurücklehnte. Unter ihnen strömte die Narmada rasch und unaufhaltsam durch die Ortschaften der Küste entgegen, um sich mit ihrer Schwester, der See, zu vereinigen.
»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte auf dem Fluss davontreiben«, sagte Malti. »Weit, weit fort. Dann müsste ich mir nicht ständig Brahmanjis Gemecker anhören. ›Malti, tu dies, Malti, tu das‹ … Immer das gleiche Lied. Ich würde mir einen Ort suchen, wo mich niemand kennt und niemand weiß, wie alt ich bin. Und wo ich den ganzen Tag Barfi essen kann.«
»Barfi?«, fragte Kalu. Sein Magen knurrte beim Gedanken an
die sahnige Süßigkeit aus Milch und Mandeln. Er hatte sie im Süßwarenladen gesehen, aber nie genug Geld gehabt, um etwas davon zu kaufen. »Wie schmeckt das denn? Hast du schon mal welches gegessen?«
»Ja, Ganga Ba hat Barfi gekauft, als ihre Tochter aus Amerika hier war. Brahmanji behauptet immer, er hätte es leicht selbst machen können … und viel besser. Ha! Er hat Glück, dass Ganga Ba ihn nicht rausschmeißt. Jedenfalls habe ich damals ein zerbröseltes Stück bekommen. Köstlich, sage ich dir. So süß und so sahnig.«
»Wie Mangos?«
»Seit wann schmecken Mangos sahnig? Viel, viel besser. Wenn wir wieder mal welches haben, versuche ich, ein Stückchen für dich zu besorgen. Falls Brahmanji kein Theater macht.« Malti biss sich auf die Lippen und starrte hinunter zum Fluss. »Am liebsten würde ich weglaufen.«
»Hast du das wirklich vor? Wann denn? Bald?«, fragte Kalu.
Malti
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