Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
zweimal können sie mich doch nicht treffen. Verstehst du, ich dachte, ich bin in Sicherheit. Mich wird schon keiner holen. Es kann ja keiner sagen, welche Farbe ich habe. Ich bin ein Niemand. Sicherer, als ich seit ... Etwas zerrt an mir, wie Brahms. Als ob all das hier weiterginge, als ob es bis in alle Ewigkeit weiterginge. Es gibt einen Grund dafür, dass ich zurückgekehrt bin. Auf der anderen Straßenseite, am anderen Ende des Blocks, plündern Kids einen Werkzeugladen. Weißt du noch? Die Armen voll. Bohrmaschine. Eine Werkbank. Eine elektrische Säge. Sie sehen mich da stehen. He, schnapp dir was, du Motherfucker, oder bist du dir zu fein dafür? Einer bleibt stehen, und ich denke, jetzt ist es so weit. Jetzt erschießt er mich. Er bleibt stehen und reicht mir einen Eimer Farbe und eine Hand voll Pinsel. Als wäre er Gott und hätte ein Geschenk nur für mich. Ich hole mein Geld raus und will die Farbe bezahlen. Den geplünderten Laden. Er brüllt vor Lachen.
    Als wäre es meine Berufung, Joey. Irrsinn war das! Ich zog durch die Straßen und markierte die Leute. Den ersten Strich verpasste ich mir selbst. Ich kam mir vor wie der Engel des Herrn, erteilte jedem, den ich fand, die Absolution. Passah. Jeder bekam einen braunen Strich, zum Zeichen, dass er dazugehörte. Jedenfalls hatte ich mir das so vorgestellt. Aber dann kam ich an einen, der wollte keinen Farbstrich von mir. Stieß mich gegen eine Wand, und sämtliche Farbe, die ich noch hatte, lief an mir runter. Und im nächsten Augenblick liege ich auch schon am Boden, ein Polizist presst mir mit seinem Stock den Hals auf die Straße. Sie schleppen mich zu einer Grünen Minna und karren mich zum Revier. Sie nehmen meine Aussage auf. Hätte ihnen sonst was erzählen sollen. Tun, als wäre ich jemand anderer. Und stell dir vor, die Scheißer haben mich nicht mal dabehalten! Ich konnte mich nicht einmal verhaften lassen. Tausende von Leuten halten sie fest, weil sie gegen die Ausgangssperre verstoßen, aber mich schicken sie weg. Zu viele echte Ganoven. Was singen Sie? Wo kommen Sie her? Und sie haben mir geglaubt. Dachten, so was Bescheuertes kann sich gar keiner ausdenken. Schicken mich weiter zu ihrem Scheiß-Krankenhaus! Zum Teufel mit den Burschen. Aber ich bin wieder abgehauen. Bin gleich hierher zum Hotel gegangen und habe dich angerufen.«
    Noch einmal musste ich ihm versprechen, dass ich es Ruth sagen würde, gleich am Morgen. Ich schärfte ihm ein, dass er auf der Stelle ins Krankenhaus zurück und sein Ohr versorgen lassen müsse. Er solle noch einmal anrufen, sobald er mit einem Arzt gesprochen habe.
    »Arzt, Joey? Die sind alle beschäftigt. Mit den echten Sachen. Tod und so was. Was meinst du, was die das schert, wenn ein Ausländer mit einem blutigen Ohr kommt?« Er schnappte nach Luft. Am anderen Ende der schlechten Leitung konnte ich ihn mit dem Ersticken ringen hören. Mit dem Tod, den er mit all den panischen Anfällen seiner Jugend nacherlebt hatte.
    Ich redete, bis ich ihn beschwichtigt hatte, wie ich es schon so oft getan hatte. Ich ging mit ihm durchs Hotelzimmer. Immer wieder sagte ich ihm, er müsse Hilfe holen, aber er wollte nicht auflegen. »Sag es ihr, Joey. Sag ihr, dass ich dort gewesen bin. Sag ihr, dass niemand für immer fort ist. Jeder geht anderswohin. Zum nächsten Mal. Es gibt immer ein nächstes Mal.«
    Schließlich überredete ich ihn aufzulegen. »Geh zum Arzt, Joey. Dein Ohr.« Ich versuchte zu schlafen, aber ich konnte es nicht. In meinen Wachträumen sah ich die Hüllen aufplatzen, die uns zusammenhielten, wie Schmetterlingslarven, und wir strömten heraus wie Regen, der zum Himmel zurückkehrt.
    Am nächsten Morgen tauchte Jonah nicht zum Frühstück auf. Hans Lauscher fand ihn, kurz nach zehn Uhr. Er lag ausgestreckt auf dem Bett, noch angezogen, oben auf der Bettdecke. Auf der einen Seite des Kissens war ein großer Blutfleck, und Hans glaubte, er sei verblutet. Aber mein Bruder hatte einfach aufgehört zu atmen. Der Fernseher in seinem Zimmer lief, ein Sender für Lokalnachrichten.

REQUIEM
     
    Wir begruben Jonah in Philadelphia, im Familiengrab. Im Monat darauf flogen Ruth und ich zu seiner europäischen Gedenkfeier. Sie fand in Brüssel statt, in einem halben Dutzend Sprachen, allesamt gesungen. Es gab keine Grabrede, keine Nachrufe, nur Musik. Dutzende von Sängern erwiesen ihm die letzte Ehre, Sänger, mit denen er in den letzten Jahren gemeinsam aufgetreten war. Unser Stück war das jüngste von allen und

Weitere Kostenlose Bücher