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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Ruths Frage blieb unbeantwortet.
    Um 2 Uhr 40 am Freitagmorgen rief er an und gab die Antwort. Ich muss wohl von ihm geträumt haben, denn ich sprach schon mit ihm, bevor ich das Telefon klingeln hörte. Er klang aufgeregt, schien an der Schwelle zu einer großen Entdeckung. »Joey? Muli? Ich bin hier. Ich bin wieder hier.« Ich musste erst zu mir kommen, bis ich hörte, unter welchem Schock er stand. »Ist dir klar, was das bedeutet? Ich bin wieder hier. Ich habe alles gehört, jedenfalls bis sie mein Ohr erwischt haben. Jede Note. Sag ihr das. Das musst du ihr sagen.«
    Ich rüttelte mich wach, versuchte ihn zu beschwichtigen. »Jonah. Gott sei Dank, dass du in Sicherheit bist. Das Schlimmste ist vorbei. Das haben sie am Abend in den Nachrichten gesagt. Die Verhältnisse sind schon fast wieder normal.«
    »Normal? Das hier ist das Normale, Joey. Das hier!«, brüllte er.
    »Jonah. Hör mir zu. Es ist halb so schlimm. Bist du im Hotel? Dann bleib drin. Die Army –«
    »Drin? Drin? Du hast wirklich nie etwas kapiert, was? Idiot!« Die nackte Wahrheit. Unser ganzes gemeinsames Leben lang hatte er mich für einen Idioten gehalten. Und er hatte Recht. Aber schon stürmte er weiter, konnte auf keinen von uns beiden warten. Er rang nach Atem. »Seit gestern Nachmittag bin ich hier mittendrin. Ich bin hingegangen, Muli. Ich wollte tun, was ich tun musste. Ich wusste es ja im Voraus, was ich tun würde. Ich stand an einer brennenden Straßenecke und wollte einen improvisierten Chor zusammenbekommen. Wollte »He's got the whole world in his hands« singen. Das musst du ihr erzählen. Du musst es ihr sagen. Sie hat mich falsch verstanden, von Anfang an. Du darfst nicht zulassen, dass sie so von mir denkt.« Seine Stimme war gewaltig, der Auftritt seines Lebens. Er hatte die Lektion seiner alten Lehrerin, seiner Liebhaberin beherzigt: Wenn du nicht mehr sein kannst als du selbst, brauchst du gar nicht erst auf die Bühne zu gehen.
    »Ich sage es ihr, Jonah.« Ich musste es ihm ein paar Mal versprechen, bevor er sich halbwegs beruhigte.
    Er kicherte zwischen den Worten. »Das Konzert hatten sie abgesagt. Nehme an, die Freunde der Alten Musik wollten doch lieber nicht zum Jüngsten Gericht. Meine Europäer drehten durch. Sie saßen in der Falle, im Land ihrer schlimmsten Albträume. Sie verbarrikadierten sich im Hotel. Aber ich musste da wieder hin, Joey. Du und ich zusammen, am Abend unserer ersten Schallplattenaufnahme.« Er musste den Faden seines Lebens wieder aufnehmen, irgendwo dort draußen in den brennenden Straßen.
    Er ging mitten hinein, dahin, wo der Aufruhr am heftigsten tobte, ließ sich ganz von seinem hoch entwickelten Gehör leiten. »Wie sahst du aus?«, fragte ich.
    »Wie ich aussah? Ja wie ich!« Er brauchte einen Moment; er war noch immer benommen. »Baumwollhose und ein gestärktes Hemd. Ich weiß: der reine Selbstmord. Aber unter dem Hemd ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck KEINE ANGST, ES IST NUR KUNST. Der Taxifahrer weigerte sich, weiter als bis zur Interstate zu fahren. Ich muss die letzten zwei Meilen zu Fuß gegangen sein. Obwohl ich mich nicht erinnern kann. Völlig daneben, Joey. Was für Menschenmassen. Du weißt es ja noch. Ich ging ein in diese Menge, ich mündete in den Ozean. Nahm meine erste Gesangstunde. Dum, dum, dum. Es war nichts da. Nichts außer Feuer. Götterdämmerung mit einem Etat von zwei Milliarden Dollar. Muli. Ich habe immer geglaubt, Oper, das sei der Albtraum eines anderen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass dieser andere ich bin.
    Ich hielt einfach auf die Rauchwolken zu. Habe mich immer wieder umgedreht; ich wollte wissen, wo du bleibst. Schließlich landete ich in einer Geschäftsstraße. Sämtliche Läden brannten. In ganzen Straßenzügen gab es keine einzige heile Fensterscheibe mehr, und die Scherben schimmerten wie Kolophonium. An der Straßenecke flogen Betonbrocken, so groß wie meine Hand. Hätte nicht sagen können wer gegen wen. Latinos, Koreaner, Schwarze, Weiße in Uniform. Ich hätte genauso gut singen können. Stand da mitten im Kreuzfeuer. Ein Stück Bordstein, groß wie ein Absatz, traf mich an der Schläfe. Ich stand da, schnippte mit den Fingern, zuerst auf der einen, dann auf der anderen Seite. Mein linkes Ohr ist taub. Das mir, Joey. Stocktaub! Hör dir das an!« Ich hörte, wie er den Telefonhörer ans andere Ohr legte. »Hörst du das? Nichts!
    Da endlich komme ich zu mir. Ich fange an zu laufen. Blut kommt in Strömen aus dem verletzten Ohr. Aber

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