Der Klang der Zeit
DEZEMBER 1961
Irgendwo in einem leeren Saal singt mein Bruder noch immer. Seine Stimme ist noch nicht verhallt. Nicht ganz. Wo immer er sang, ist etwas zurückgeblieben, etwas wie Vertiefungen, wie Rillen in den Wänden, die nur darauf warten, dass ein künftiger Phonograph sie wieder zum Leben erweckt.
Mein Bruder Jonah steht reglos an den Flügel gelehnt. Er ist gerade einmal zwanzig. Die sechziger Jahre haben eben erst begonnen. Noch liegt das Land im letzten Schlafseiner trügerischen Unschuld. Niemand hat von Jonah Strom gehört, niemand außer unserer Familie. Dem, was von ihr übrig ist. Wir sind nach Durham in North Carolina gekommen, in den alten Konzertsaal der Duke-Universität. Jonah hat die Endrunde eines landesweiten Gesangwettbewerbs erreicht, von dem er später behaupten wird, er habe nie daran teilgenommen. Er ist allein auf der Bühne, ein wenig rechts von der Mitte. Zur Seite geneigt, als suche er Rückhalt in der geschwungenen Flanke des Konzertflügels, seiner einzigen Zuflucht. Er beugt sich nach vorn, schweigend, gekrümmt wie die Schnecke eines Cellos. Die linke Hand stützt sich auf die Kante des Flügels, in der rechten hält er einen Brief, den es längst nicht mehr gibt. Er grinst, kann selbst kaum glauben, dass er hier ist, dann holt er Luft – und singt.
Eben noch hockt der Erlkönig auf meines Bruders Schulter und flüstert verführerisch vom Tod. Im nächsten Augenblick tut sich eine Falltür auf, und mein Bruder ist anderswo; ausgerechnet Dowland zaubert er hervor, eine hinreißende kleine Frechheit für die Ohren dieses verblüfften Liederpublikums, das gar nicht merkt, wie es ihm ins Netz geht:
Time stands still with gazing on her face,
Stand still and gaze for minutes, hours, and years to her give place.
All other things shall change, but she remains the same,
Till heavens changed have their course and time hath lost his name.
Zeit steht still, schau ich in ihr Gesicht,
Steh still und schau, Minute, Stund und Jahr, sie schwindet nicht.
Wenn alles auch vergeht, bleibt sie doch ewiglich,
Bis der Planeten Lauf sich kehrt und Zeit heißt nicht mehr Zeit.
Zwei Strophen, und das Lied ist zu Ende. Stille liegt über dem Saal. Sie schwebt über den Reihen wie ein Ballon am Horizont. Zwei Taktschläge, in denen selbst Atmen ein Verbrechen wäre. Dann gibt es nur eins, was diesen Bann bricht: Applaus. Dankbare Hände setzen die Zeit wieder in Gang, der Pfeil nimmt seinen Flug wieder auf und bringt meinen Bruder auf den Weg zu seiner Bestimmung.
So sehe ich ihn, auch wenn er danach noch ein Dritteljahrhundert zu leben hat. Das ist der Augenblick, in dem die Welt ihn entdeckt, der Abend, an dem ich höre, wohin seine Stimme unterwegs ist. Ich selbst bin auch auf der Bühne, sitze an dem zerkratzten Steinway mit den abgegriffenen Tasten. Ich begleite ihn, versuche mit ihm Schritt zu halten und nicht der Sirenenstimme zu lauschen, die mir zuflüstert Lass die Finger ruhen, dein Boot zerschellen an der Tasten Riff, und stirb in Frieden.
Zwar mache ich keine schlimmen Patzer, aber der Abend zählt nicht zu den Höhepunkten meiner musikalischen Laufbahn. Nach dem Konzert bitte ich meinen Bruder noch einmal, er soll mich gehen lassen und sich einen ebenbürtigen Begleiter suchen. Wieder lehnt er ab. »Ich habe schon einen Begleiter, Joey.«
Ich bin mit ihm auf der Bühne. Aber ich bin auch unten im Saal, da, wo ich bei Konzerten immer sitze: In der achten Reihe, links, gleich neben dem Gang. Von meinem Platz aus kann ich mich spielen sehen, kann das Gesicht meines Bruders studieren – nah genug, um alles zu sehen, und doch weit genug ab, dass mich der Anblick nicht um den Verstand bringt.
Eigentlich müssten wir vor Lampenfieber wie gelähmt sein. Der Raum hinter der Bühne ist ein einziges blutendes Magengeschwür. Musiker, die ihre gesamte Jugend mit der Vorbereitung auf diesen Augenblick zugebracht haben, malen sich jetzt aus, wie sie den Rest ihrer Tage damit zubringen werden zu erklären, warum sie in der entscheidenden Sekunde scheiterten. Der Konzertsaal füllt sich mit Neid und Missgunst, Familien, über Hunderte von Meilen angereist, müssen mit ansehen, wie ihr ganzer Stolz auf die hinteren Ränge verwiesen wird. Nur mein Bruder hat keine Angst. Er hat seinen Preis schon gezahlt. Dieser öffent-liche Wettbewerb hat nichts mit Musik zu tun. Musik, das sind die Jahre des gemeinsamen Singens im schützenden Schneckenhaus unserer Familie, bevor
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