Der Klang des Verderbens
Treppenhaus absolut keinen Empfang hatte.
»Das kann doch nicht wahr sein«, stöhnte sie.
Viele Möglichkeiten gab es jetzt nicht. Sie musste entweder in einen der unbekannten Flure hinaustreten und es noch einmal versuchen oder einfach weiter hinunterlaufen, das Treppenhaus so rasch wie möglich verlassen und von der Eingangshalle aus telefonieren.
Unentschlossen blieb sie auf dem nächsten Absatz stehen und drückte versuchsweise an der Tür. Sie war abgeriegelt. Entweder waren sie im Normalfall alle verschlossen und Philip hatte nur für sie die Tür zu seiner Etage aufgelassen, oder er – beziehungsweise jemand anders – hatte absichtlich alle anderen Türen abgeschlossen, um dafür zu sorgen, dass es zwischen der Eingangshalle und dem zehnten Stock, wo die Falle auf sie wartete, keine Fluchtmöglichkeit für sie gab.
Als sie ihre Theorie auf der nächsten Etage testete und an einer ebenfalls verschlossenen Tür rüttelte, wuchs ihre Beklemmung.
Hinunter? Oder hinauf?
Wartete er in der Tiefe unter ihr oder folgte er ihr von oben?
Sie wartete ab, ob ihr Instinkt ihr einen Hinweis gab, doch bisher verhielt er sich in dieser speziellen Situation nervenaufreibend unstet. Gott, wie sie die Dunkelheit hasste!
Das Handydisplay erlosch immer wieder, und sie musste ständig mit dem Finger über den Bildschirm wischen, um es aus dem Standby-Schlaf zu wecken. Doch bald half auch das nicht mehr. Als sie das Telefon umdrehte, sah sie, dass der Akku fast leer war.
Die englische Sprache wies nicht genug Schimpfwörter auf, um ihren Ärger wiederzugeben. Da sie die Restlaufzeit des Akkus besser für den Anruf sparte, den sie machen
musste
, wenn sie es hier hinausschaffte – vor allem weil sie nicht sicher sein konnte, dass der, der sie verfolgte, nicht alle Telefonleitungen im Gebäude gekappt hatte, zusammen mit dem Licht –, schaltete sie das Telefon mit Bedauern ab.
Dieses kleine bisschen Helligkeit zu verlieren war wie der Verlust eines besten Freundes, aber sie trottete weiter. Nach unten ging es leichter als nach oben, und trotzdem war es noch ein langer Weg durch die Finsternis. Wegen der Leuchtstreifen hatte sie keine Angst zu stolpern, aber das war kein Vergleich mit der hell erleuchteten Wanderung, die sie vor einer halben Stunde angetreten hatte.
Sie zählte die Treppenabsätze, an denen sie vorbeikam, da sie die Schilder an den Türen zu den Etagen kaum erkennen konnte.
Sieben. Sechs.
Weiter, immer weiter.
Vier. Drei.
Noch zwei Stockwerke.
Bald geschafft, nur noch eins.
Stufe. Stufe. Stufe.
Fast da.
Genau in diesem Moment hörte sie ein Geräusch. Ein leises Klacken, genau unter ihr.
Sie begriff sofort, aber überrascht war sie eigentlich nicht.
Rauf. Du hättest raufgehen sollen, verdammt.
Sie war der Falle nicht entkommen. Sie war genau hineingetappt.
Ronnie folgte ausschließlich ihrem Instinkt und beschloss, das zu tun, womit ihr Verfolger vermutlich am wenigsten rechnete. Statt hinaufzurennen, zurückzuweichen oder zögerlich nachzudenken, wollte sie sich nach vorn stürzen. Zwischen ihr und dem Fußboden lagen vielleicht noch fünf oder sechs Stufen. Wenige Meter dahinter befand sich die Tür zum Erdgeschoss. Stand er auf den Stufen, würde sie ihn umreißen. Versteckte er sich unter der Treppe, dann schaffte sie es eventuell vor ihm hinaus.
Im schlimmsten Falle stand er genau vor der Tür. Doch das Risiko musste sie eingehen.
Als die Entscheidung gefällt war, packte sie ihre Waffe fester und sprang. Sie landete hart, ihre Schienbeine protestierten gegen den Schmerz, und warf sich gegen die Tür.
»Oh nein, das wirst du nicht, das darfst du nicht!«, schrie eine schrille, verzweifelte, irrsinnige Stimme.
Irgendetwas pfiff hinter ihr scharf und schnell durch die Luft. Erst als kurz darauf der Schmerz von ihrer Schulter in ihr Gehirn transportiert wurde, begriff sie, dass sie geschnitten worden war.
Mit einem Aufschrei wirbelte sie herum und hob die Glock. Sie sah die dunkle Gestalt, die tatsächlich unter der Treppe gekniet hatte. Ronnie erhaschte einen Blick auf viel schwarzen Stoff und eine Kapuze und wurde nur allzu lebhaft an die letzten Momente von Underwood und Girardo erinnert. Sie konnte nicht genau erkennen, was der Kerl für eine Waffe hatte, aber sie sah das Schimmern einer breiten, langen, irrsinnig scharfen Klinge. Lang genug, um einen Kopf abzutrennen, nahm sie an.
»Keine Bewegung«, knurrte sie. »Ich will dich nicht erschießen, Philip, glaub mir. Aber das werde
Weitere Kostenlose Bücher