Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
unten Fis. Und in die andere Richtung ein F, B, Es, As, Des und ganz unten ein Ges. Wenn ihr mich fragt, ist das angeordnet wie ein Quintenzirkel.»
«Moment mal», sagte der Flügel. «Es könnte doch sein, dass das Ding funktioniert wie eine Art Nummernschloss. Man muss einfach die richtige Melodie eingeben, und das Schloss springt auf. Lasst uns mal das Seikilos-Lied versuchen.»
Flink probierte Tri die Melodie aus. Jedes Mal, wenn der Zeiger des Rades auf einen der Buchstaben wies, erklangen die angezeigten Noten klar und laut.
Aber nichts geschah. Die Lyra hing weiter gefangen im Raum.
Alle schwiegen. Nur das sonderbare Brummen war in der Höhle zu hören und – dumpf von weiter oben – das unheimliche Konzert der Orgel und ihrer Untertanen, das das Tor zur Welt der Menschen öffnen sollte.
Die Instrumente sahen sich an.
«Gut, dass die da oben so einen Lärm machen», sagte die Celesta besorgt, die lange Zeit geschwiegen hatte. «Die Lyra ist bestimmt auch deswegen auf diese Art und Weise gesichert, damit jeder sofort hört, wenn sich hier jemand an dem Schloss zu schaffen macht. Wenn Theodora nicht so mit ihrem Konzert beschäftigt wäre, hätten wir bestimmt schon die Wachen auf dem Hals. Untersucht das Ding doch mal, ob es vielleicht irgendeinen Hinweis gibt.»
Strato schwebte hinter das Schloss und inspizierte es von oben bis unten.
«Ah, hier! Es sind ein paar Zeilen auf der Rückseite eingraviert», rief die Gitarre und las laut vor:
«Zwölf Töne formen einen Kreis. Vier öffnen ihn für den, der weiß, wer sich in Orpheus’ Unterwelt mit der Persephone vermählt.»
«Ein Rätsel», brummte Fendi. «Ich versteh nur Bahnhof.»
«Das bedeutet wahrscheinlich, dass wir gar keine Melodie suchen müssen», sagte der Flügel. «Es scheint, als müssten wir eine Lösung suchen, die sich aus Buchstaben ergibt. Ähnlich wie bei Johann Sebastian Bach, der aus den Buchstaben seines Namens B-A-C-H eine Melodie geformt und sie in viele seiner Werke gewissermaßen als Unterschrift eingearbeitet hat.»
Es war, als spräche der Flügel mehr zu sich selbst als zu seinen Gefährten. Keiner wagte, seinen Redefluss zu unterbrechen.
«Hmm …», sprach der Flügel weiter. «Was steht da noch mal? Wer sich in Orpheus’ Unterwelt mit der Persephone vermählt. Man sagt, die Lyra sei genau in dem Moment verschwunden, als Orpheus ohne seine Geliebte Eurydike aus der Unterwelt zurückkehrte. Die Lösung muss etwas sein, das wir mit den hier zur Verfügung stehenden Buchstaben darstellen können.»
Jetzt schaltete sich die Celesta ein: «Persephone war eine Göttin. Sie hat den Hüter der Unterwelt überredet, Orpheus die Erlaubnis zu geben, seine geliebte Eurydike wiederzubekommen, wenn er sich auf dem Weg nach draußen nicht umdreht. Wie das ausgegangen ist, wisst ihr ja hoffentlich … Er hat sich umgedreht und … wuschhhh … alles umsonst. Und wer war mit Persephone verheiratet? Es war der Hüter der Unterwelt selbst – Hades.»
«Hades! Das muss es sein!», rief der Flügel. «Schnell, lasst es uns versuchen.»
Eilig drehten sie die Noten H-A-Des auf dem Quintenzirkel, aber zu ihrem großen Erschrecken passierte nichts. Das gleiche sonore Brummen erfüllte den Raum.
Oben war das alles entscheidende Konzert in vollem Gange, und ihre Zeit lief allmählich ab, die Lyra musste befreit werden. Wahrscheinlich war es dafür sowieso schon zu spät. Es schien alles verloren.
«Natürlich. Wir Dummköpfe!», unterbrach der Flügel plötzlich die allgemeine Ratlosigkeit.
«Schaut doch mal genau hin: Vier öffnen ihn … Zwölf Töne formen einen Kreis … und … vier öffnen ihn … Wir haben aber nur drei Töne benutzt. Wir dürfen nicht das Des nehmen, sondern wir müssen es trennen in D und Es. Es sollen doch vier Töne sein!»
Hastig drehten sie den Zeiger auf H, dann auf A, auf D und zuletzt auf Es. Als der letzte der vier Töne verklungen war, verstummte plötzlich das Brummen.
Es gab ein hartes, schnappendes Geräusch. Die beiden Enden der Kette lösten sich vom Schloss, die Kette rasselte scheppernd aus den Ösen auf den felsigen Untergrund und gab die Lyra frei.
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Der große Kampf
D ie Lyra schwebte für einen kurzen Moment zitternd in der Luft und sank dann langsam zu Boden. Die Strahlenbündel blauen Lichts, die sie so lange in Theodoras Röhrensystem geschickt hatte, erloschen.
Das Gebäude erzitterte – aber das unheilvolle Konzert weiter oben wurde nicht
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