Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Flügel fuhr herum. Die Hilferufe kamen aus der Richtung der herabgestürzten Statuen. Vorsichtig rollte er dorthin, und seine Gefährten folgten ihm. Was wollte ihr Freund an diesem Trümmerhaufen?
Je näher der Flügel kam, desto lauter wurden die Rufe. Und dann sah er es. Die Guarneri! Sie lebte! Ein großer, länglicher Felsbrocken hatte sie fast ganz unter sich begraben, das Holz war zersplittert, viele Saiten gerissen. Die Geige konnte sich unmöglich aus eigener Kraft befreien. Sie war gefangen und offenbar schwer verletzt. Die Gefährten waren dem Flügel gefolgt, und jetzt sahen auch sie die hilflose Geige.
«Helft mir», bat sie flehentlich.
Der Flügel rollte noch näher heran.
«Tu’s nicht», sagte die Celesta. «Sie ist durch und durch gemein. Du wirst es bereuen.»
«Mag sein», sagte der Flügel. «Aber ich will nicht sein wie sie. Ich werde ihr helfen.»
Und dann begann er mit aller Kraft, gegen den Felsbrocken zu drücken. Die anderen sahen ihm zu, und schließlich gab sich Fendi einen Ruck und half dem Flügel. Und schon nach wenigen Augenblicken zogen und zerrten alle Gefährten – sogar die Celesta – an dem Felsbrocken, bis der schließlich knirschend wegrollte und die Guarneri freigab.
Das einst so stolze und mächtige Instrument war in einem bedauernswerten Zustand, geknickt und zersplittert.
«Danke», murmelte sie noch, sah den Flügel an und verlor das Bewusstsein.
Alle standen stumm da und sahen auf die Geige hinab. Auf einmal schmeckte der Sieg schal, doch dann riss sie ein erneuter Donner, der die Ebene außerhalb des Turmes erzittern ließ, aus ihren Gedanken.
Der Flügel reagierte als Erster.
«Tri, da vorn liegt der magische Schlägel. Nimm ihn an dich, und dann lasst uns alle schleunigst in diesen Gang gehen. Die Zeit läuft uns davon.»
Und schon nach wenigen Sekunden waren die Gefährten auf dem Weg – hinein in das Innere des Turmes.
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Die Befreiung der Lyra
V orsichtig rollten und schwebten die Gefährten in den Geheimgang, in dessen Wände Noten gemeißelt waren. Die Gefährten sahen Zeichnungen antiker Instrumente, und irgendwann ertönte Musik aus dem Stein. Jeder Meter, den die Freunde voranschritten, wurde von anderen Klängen begleitet. Moog checkte sein Soundarchiv und murmelte: «Dies sind einstimmige geistliche Gesänge der frühchristlichen Kirchen. Hier hören wir eine isorhythmische Motette. Dies ist eine drei- und vierstimmige Organa. Und das hier, warte mal, das ist frühe venezianische Instrumentalmusik.»
«Scheint so was wie ein musikalisches Archiv zu sein», sagte Strato.
«Ja», antwortete die Celesta. «Ich habe davon gehört. Die Wände dieses Ganges sind sozusagen mit Musik aufgeladen, durchtränkt von Klängen und Noten, die wie Wasser in einem feuchten Gemäuer aus den Steinen sickern. Es heißt, hier ist alles enthalten, was jemals an Musik gespielt wurde.»
Gebannt lauschte der Flügel der Musik aus den unterschiedlichen Jahrtausenden. Und wieder dachte er, wie schön und interessant diese Welt doch sein würde, wenn die Orgel sich nicht dem Bösen verschrieben hätte.
Die Gruppe kam nur langsam voran; immer wieder mussten der Flügel und die Celesta mühsam über große Steinbrocken klettern, die im Weg lagen. Doch dann ging es ohne Hindernisse nur noch geradeaus, und schließlich stand die Gruppe vor einer massiven Wand aus Stein.
«Ich erkenne diese Oberfläche», sagte die Celesta. «Das ist der Stein, aus dem das Monument der Theophanu gemacht ist. Wir müssen direkt an der Unterseite des Denkmals sein.»
«Aber wie kommen wir hier durch?», fragte Moog.
Keiner antwortete. Alle starrten nur auf die glatte, fugenlose Wand, die sie vom Inneren des Monumentes und von der geheimnisvollen Lyra trennte.
«Die Musik aus den Wänden hat aufgehört», sagte Tri in das Schweigen hinein.
«Aber ich höre etwas anderes», bemerkte Fendi. «Ganz dumpf.»
Und jetzt hörten es alle. Von oben hallte wieder das Seikilos-Lied zu ihnen herunter. Die Orgel dirigierte ihr Orchester, und es klang, als ob die Instrumente immer lauter und hektischer spielten. Irgendetwas geschah dort oben, etwas Böses, das beide Welten, die der Instrumente und die der Menschen, verändern sollte.
«Wir müssen durch diese Wand», rief der Flügel. «Irgendwie muss es doch gehen.»
«Der magische Schlägel!», rief Tri. «Vielleicht geht es damit.»
Sie schwebte mit dem Schlägel in ihrer kleinen Hand auf die Wand zu, hob ihn und
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