Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Wortes. Gierig nach Neuem! Und meist geht es dabei um Musik. Musik – das ist Nellys Welt, ihre große Leidenschaft, seit sie denken kann. Das Klavier, das zu Hause im Wohnzimmer steht, hatte sie schon immer magisch angezogen. Schon bevor sie anfing zu sprechen, erkundeten ihre kleinen Hände die Tastatur, fasziniert von den wundersamen Klängen, die man dem großen schwarzen Kasten entlocken konnte. Und ihr Großvater zeigte ihr bald darauf, dass kleine Geschichten zwischen den Tasten verborgen lagen. Oben im Diskant jubilierten die Vögelchen am Himmel, unten im Bass tapste tollpatschig der große Bär durchs Unterholz. Und Nelly konnte sie alle mit ein paar Fingerbewegungen zum Leben erwecken. Die Musik wurde zu einer Welt, die nur ihr gehörte. Eine Welt, in die sie sich jederzeit flüchten konnte, auch wenn sie etwas bedrückte oder sie einfach nur mal für sich sein wollte. Ihre ersten Klavierstunden waren dann wie ein Wunder. Plötzlich verstand sie diese Welt auch endlich. Das Beste aber war dieses besondere Gefühl, wenn sie selbst Musik machte. Diese Verbundenheit mit den Klängen, die sie trugen wie ein großes, starkes Netz. Nelly konnte nicht genug kriegen von der Musik. Manchmal hockte sie stundenlang vor der Stereoanlage ihrer Eltern und hörte alte Platten – und dann dachte sie oft, sie hätte all diese Töne, die sich in totaler Harmonie miteinander verbanden, schon einmal gehört oder geträumt. Begeistert sog sie vor allem Klavierstücke in sich auf, die große Komponisten schon weit vor ihrer Geburt ersonnen hatten. Sie waren wie eine Schatztruhe voller Stimmungen, die Nellys eigene Bilder musikalisch unterlegten und mit Leben füllten. So tauchte sie im Laufe der Zeit immer tiefer ein in eine spannende Welt, die ihr vorkam wie eine Mischung aus schon erzählten und neu erfundenen Geschichten. Eine herrliche, farbige, schillernde Welt aus Klängen und Harmonien, und sie wäre das glücklichste Mädchen der Welt, wenn … ja, wenn da nicht Frau Billerbeck wäre.
Die ersten Stunden hatte Nelly ein freundlicher Musikstudent gegeben. Aber der zog weg, und ihre Eltern engagierten Frau Billerbeck. Es hieß, sie sei die Beste. Eine ehemalige Konzertpianistin auf dem Sprung zur großen Karriere, bis – so sagte ihre Mutter einmal – «ihr das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte». Was das genau war, bekam Nelly nie heraus, aber das Erlebte musste Frau Billerbeck zu der strengen, unnahbaren Frau gemacht haben, die sie heute war.
Frau Billerbeck erkannte schnell das Talent ihrer Schülerin. «Aus dir kann etwas Großes werden», sagte sie schon nach ein paar Unterrichtsstunden und fügte hinzu: «Wenn du fleißig übst und dir die Flausen aus dem Kopf schlägst.» Nelly fragte nicht, was genau mit Flausen gemeint war, aber sie spürte schnell, dass sie eine ganz besondere Bedeutung für die Billerbeck hatte. Sie wurde so etwas wie ihr ganz persönlicher Schatz, das von ihr entdeckte Wunderkind. Und es schien Nelly, als wolle Frau Billerbeck all das, was ihr selbst im Leben verwehrt geblieben war, durch Nelly nachholen.
Entsprechend ehrgeizig ist der akribisch ausgearbeitete Übungsplan, den Nelly täglich abarbeiten muss. Jeder Nachmittag beginnt mit Tonleitern und Arpeggien zum Aufwärmen. Dann muss Nelly an einem neuen, von Frau Billerbeck ausgesuchten Klavierstück arbeiten und zum Schluss noch einmal das gesamte Repertoire der zuletzt gelernten Klavierstücke auffrischen. Ganz am Ende – und das hasst Nelly am meisten – muss sie komplett atonale Fingerübungen machen. «Sie verbessern deine Technik», sagt Frau Billerbeck immer wieder. «So kannst du später im Konzertbetrieb gegen deine Konkurrenten bestehen.»
Nelly will aber gar nicht in den Konzertbetrieb und schon gar nicht gegen Konkurrenten bestehen. Wieso überhaupt Konkurrenten? Warum sich immer mit anderen messen? Nelly möchte eigentlich nur in ihre geliebte Welt der Musik und ihrer Geschichten abtauchen. Sie will ja lernen – aber eben auch Spaß haben und sich mit ihren Freundinnen treffen. Über Jungs reden. Mit ihnen reden ist ja eher schwierig. Nelly beklagt sich bei ihren Eltern, aber die verstehen sie nicht. «Qualität kommt von Qual», sagt ihr Vater. Ihre Mutter ist da schon verständnisvoller und will wissen, was Nelly denn an Frau Billerbeck stört. Nelly denkt nach. Es ist so viel, was sie sagen möchte – also erfindet sie einfach ein neues Wort und sagt: «Die ist so verknorzt!» Ihre
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