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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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verschaffen sollte, sondern auch ähnlich breit, denn jeder Mann, der im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte war, betrachtete es als Beleidigung, wenn es ihm nicht gelang, sich irgendwo in der Mitte in die Schlange hineinzudrängen. Und auch die Frauen versuchten, in die erstbeste Lücke zu schlüpfen, die sich auftat, denn schließlich, so ihre listige Argumentation, gebe es keine eigene Schlange für die Frauen, obwohl es eigentlich eine geben sollte. Nach der Hitzewelle der letzten zwei Wochen goss es nun schon den ganzen Vormittag in Strömen. Natürlich war die Schalterhalle überdacht, doch der an den Schuhen hereingeschleppte und durch die tropfenden Schirme und Regenmäntel verflüssigte Matsch bedeckte den ganzen Boden, so dass man hätte meinen können, durch ein Reisfeld zu waten. Überall rutschten und glitten Leute aus,gaben per Handy aktualisierte Reiseinformationen weiter, liehen sich Stifte aus, überprüften Zugnummern, rempelten und stritten mit gefurchten oder verzerrten Gesichtern. Über dieses Gewühl hinweg drang mit einem Knistern und Rauschen, das fast so unangenehm war wie das Quietschen von Kreide auf einer Tafel, immer wieder eine Ansage in einem starken, fast unverständlichen Dialekt aus der Lautsprecheranlage. Es war ein einziges Chaos – die allgemeine Aufregung und kontinuierliche Konkurrenz des öffentlichen Lebens in Indien.
    Eine kleine Gestalt stand in einer Ecke und beobachtete das Geschehen. Arzee verharrte schon so lange völlig reglos, dass man ihn für eine ausgesonderte Büste hätte halten können, doch jetzt tastete seine Hand reflexartig nach dem Portemonnaie in seiner Tasche, denn vor seinen Augen schlüpfte gerade ein Mann mit
drei
Regenschirmen aus der Halle. Normalerweise hätte Arzee sich ebenfalls angestellt, doch an diesem seinem letzten Vormittag in Bombay hatte er noch so viel zu tun, so viele Stationen abzuklappern und all seine Freunde zu besuchen, dass er dazu nicht bereit war. Der heutige Tag war ganz anders als die letzten paar Tage, in denen so viel geschehen war, und alles unerwartet. Heute
wusste
Arzee, dass viel geschehen würde. Es war, als wollte die Stimme, die aus der Lautsprecheranlage drang, genau das sagen: »Arzee reist heut weit, und Arzee weiß Bescheid.«
    Jetzt löste sich ein schlaksiger Schwarzmarkthändler aus der Menge und kam auf Arzee zustolziert.
    »Konkan Kanya Express 0111, Abfahrt heute Abend, Ankunft in Madgaon morgen Früh«, verkündete er. »Diese Reservierung hätten Sie ohne mich niemals gekriegt.«
    »Spar dir die großen Sprüche, das habe ich alles schon mal gehört«, sagte Arzee und tat so, als überprüfte er die Fahrkarte,ohne allerdings tatsächlich beurteilen zu können, ob sie echt war, denn seine letzte Fahrt mit einem Fernzug lag sieben Jahre zurück. »Was ist denn das? Das kommt mir komisch vor.«
    »Wie bitte, Sir? Fragen Sie einen der Vertreter hier.«
    »Also gut. Hier ist das Geld, und keine weiteren Diskussionen. Dafür habe ich keine Zeit.«
    Der junge Bursche befeuchtete die Finger und zählte die Geldscheine ab. »Da fehlen fünfzig!«
    »Mehr zahle ich nicht – sonst nimmst du die Karte wieder zurück, dann will ich sie nicht. Wofür brauchst du in deinem Alter so viel Geld? Wart noch ein paar Jahre!«
    Der Junge begann zu protestieren, doch sein Kunde war bereits verschwunden.
    Arzee trat ins Freie, wo Taxis kreuz und quer auf der Straße standen und hupten, um sich freie Bahn zu verschaffen, und Kulis neben riesigen Gepäckballen mit Passagieren feilschten. Wenn Inder verreisten, packten sie immer, als zögen sie um! Arzee spannte seinen Schirm auf und drängte sich durch die Menge, ein hüpfender roter Kreis zwischen Köpfen und Schultern. Am Tor des Bahnhofsgeländes sprachen ihn mehrere abgerissene Gestalten an, die alle zwitscherten wie Vögel. Einer bat ihn inständig, eine Reisetasche zu erwerben, ein anderer flehte ihn an, eine Windjacke anzuprobieren, und ein dritter versuchte, sein Interesse an schlüpfrigen Videofilmen zu wecken, doch Arzee wehrte sie alle mit einer Handbewegung ab und rauschte davon.
    Hier, nur ein paar Häuser weiter, stand eines von Bombays altehrwürdigen Lichtspielhäusern, das Maratha Mandir, in dem seit über zehn Jahren
Dilwale Dulhaniya
, ein Filmhit aus den frühen Neunzigern, in der Matinee gezeigt wurde. Daswar das Wunder wahrer Kunst – sie veraltete nicht, hatte den Menschen immer wieder etwas zu sagen. Arzee erwog, kurz im Maratha Mandir Station zu

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