Der kleine Koenig von Bombay
eigenen Namens, von den lärmenden Geistern auf der anderen Seite intoniert. Für sie war er also »Arzee« – sie kannten ihn nicht unter dem Namen, den man ihm als Erstes angeheftet hatte. Und dieses »Arzee« enthielt nicht nur all die bisherigen Kapitel seines Lebens, sondern auch den Grund, warum er diese Welt verließ. Arzee hob die Arme und bat darum, erlöst zu werden.
Aber Moment mal! Warum klang die Stimme, die er in seinem Kopf hörte, so sehr nach Deepak?
Weil es Deepaks Stimme
war
! Arzee wandte sich um und stellte fest, dass die vertraute hagere Gestalt durch den Durchgang auf ihn zukam, mit dem ebenso vertrauten, drohenden und zugleich spöttischen Gesichtsausdruck.
»Er ist es!«, dachte Arzee. »Dieser Mistkerl! Selbstgefällig und angeberisch wie eh und je. Ich habe ihm sein Geld zurückgezahlt, aber er läuft mir weiter nach, weil ich die große Lachnummer für ihn bin! Aber heute werde ich nicht mal seinen Namen in den Mund nehmen … Ich werde mich nicht auf sein Niveau herablassen. Soll er sich doch wundern – soll er sich wie ein Trottel fühlen, wenn er geht, denn genau das ist er schließlich.«
»Wie geht’s, kleiner Mann?«, fragte Deepak. »Komisch, aber du hast gerade ausgesehen, als würdest du gleich fallen.«
»Warum rufst du meinen Namen?«, fragte Arzee kalt. »Was machst du hier?« Zum ersten Mal hörte Arzee die Stimme des neuen Menschen, zu dem er geworden war – eineStimme, die ohne Stocken sprach und die Worte nicht verschluckte, eine feste, gleichmäßige Stimme.
»Dieselbe Frage wollte ich
dir
stellen«, sagte Deepak. Er trug ein neues Hemd, wie an dem hinterm Hals hervorlugenden Preisschild zu erkennen war, das er vergessen hatte abzuschneiden. »Warum stehst du den ganzen Tag wie ein kleiner Pascha auf dieser Mauer und ziehst ein langes Gesicht?«
Vor der Mauer angelangt, sagte er: »Jetzt will ich mir doch selbst mal anschauen, wie dein Königreich aussieht.« Er setzte einen Fuß in einen Mauerriss, überprüfte, ob er genügend Halt hatte, und schwang sich hinauf. Arzee trat zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Deepak richtete sich neben ihm auf. Er wischte sich den Staub von den Händen und ließ den Blick über die trostlose Szenerie schweifen, als begutachtete er ein Grundstück für ein geschäftliches Projekt. »Hmmm«, machte er. Er zog ein paar Busfahrscheine aus der Hemdtasche und warf sie ins Wasser. Zu zweit sahen sie den davontreibenden Papierchen nach. In einer anderen Tasche fand Deepak eine leere Zigarettenschachtel, die er ebenfalls hinunterwarf, und schließlich spuckte er noch seinen Kaugummi hinterher. Er zog eine Grimasse, sagte: »Hier stinkt’s«, und sprang wieder von der Mauer herunter.
»Nicht gerade ein berauschender Anblick«, sagte er. »Aber jedem das Seine. So wie du hier Wache stehst, könnte man meinen, da wäre irgendwo Gold vergraben. Warum hast du dein Handy ausgeschaltet, kleiner Mann? Ich habe gestern Abend versucht, dich anzurufen, und heute Morgen noch mal.«
Ein kurzes Schweigen folgte, während Arzee überlegte, ob er Fragen beantworten sollte oder nicht.
»Ich habe dich in den letzten paar Tagen mehrmals angerufen«,erwiderte er schließlich. »Aber du bist nie rangegangen.«
»Ja und? Wahrscheinlich war ich beschäftigt. Meinst du denn, ich hätte nichts anderes zu tun, als mit dir zu telefonieren und mir stundenlang dein Gemaule anzuhören? Aber ich habe Neuigkeiten für dich, kleiner Mann. Wir haben noch mal Arbeit für dich.«
»Ich mache so was nicht mehr, Deepakbhai.«
»Wart ab, bist du erfährst, worum es geht. Dann wirst du anbeißen! Ein paar Freunde des Syndikats kommen aus Usbekistan nach Bombay, und für den letzten Abend ist eine Variétévorstellung geplant –«
»Ich hab dir doch gesagt, dass mich das nicht interessiert, Deepakbhai. Such dir jemand anderen. Irgendwo anders.«
»Was ist denn nur mit dir los?«, fragte Deepak. »Hm? Du bist heute ganz anders als sonst. Warum hast du so einen komischen Gesichtsausdruck? Hat das Kino schon zugemacht?«
»Lass mich in Ruhe, Deepakbhai. Mir geht es nicht gut.« Arzee schniefte und wandte sich von Deepak ab. Er hob einen losen Stein von der Mauer und warf ihn ins Wasser.
»Lass mich in Ruhe, Deepakbhai«, wiederholte Deepak, hob ebenfalls einen Stein auf und warf ihn über die Mauer. »Wo bleiben denn heute all deine klugen Worte, kleiner Mann? Ahaa – verstehe. Es ist etwas passiert, und das lässt du an mir aus. Du ignorierst mich.
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