Der kleine Wassermann
Mühlenweiher geschehen war. Ahnungslos zog er sich an, aß sein Frühstück und machte sich auf, um ans Ufer zu schwimmen. Er wollte sich dort, wie es seine Gewohnheit war, in die Zweige der alten Weide setzen und Ausschau halten. Wenn er die Freunde dann kommen sah, wollte er winken.
Er dachte sich gar nichts Besonderes, als er emportauchte. Aber da stieß er auf einmal mit seiner Nase an etwas sehr Hartes und Kaltes. Es war ihm nicht möglich, den Kopf aus dem Wasser zu stecken.
Das ist aber sonderbar!, sagte er sich. Ich stoße an etwas an, das ich spüren kann, aber nicht sehe. Was mag das nur sein? Ob ich anderswo durchkomme? Auftauchen muss ich auf alle Fälle, das wäre ja noch schöner!
Aber sooft es der Wassermannjunge versuchte, es ging nicht. Der ganze Weiher war wie mit Glas überzogen. Da musste der kleine Wassermann einsehen, dass er nichts ausrichten konnte.
Nachdenklich schwamm er nach Hause.
„So, so", meinte der Wassermannvater, als ihm der Junge von seiner Entdeckung berichtet hatte. „Dann wären wir also schon wieder so weit. Es wird Winter, der Weiher ist zugefroren. Nun heißt es ins Bett gehen und die Decke über die Ohren ziehen - und schlafen."
„Aber wir sind doch gerade erst aufgestanden", sagte der Wassermannjunge.
„Das ändert nichts", sagte der Vater. „Die Zeit ist nun einmal gekommen, da muss sich ein Wassermann fügen. Im Winter verpasst man ja sowieso nichts. Und wenn es dann Frühling wird, weckt uns die Sonne schon rechtzeitig wieder auf."
„Weißt du das sicher?", fragte der kleine Wassermann.
„Ja", antwortete der Vater, „das weiß ich. Ich weiß das so sicher, wie du mein Junge bist. Komm, und nun legst du dich nieder, die Mutter hat schon die Betten gerichtet."
Der kleine Wassermann folgte und ging in die Schlafstube. Weil er auf einmal sehr müde war, half ihm die Mutter beim Ausziehen. Als er dann glücklich im Bett lag, gab ihm der Vater noch einmal die Hand und nickte ihm freundlich zu.
„Bis zum Frühjahr!", sagte der Wassermannvater.
„Ja, bis zum Frühjahr ...", sprach ihm der kleine Wassermann nach. „Bis ... zum ... Früh...jähr ..."
Er dachte an seine Freunde, er dachte an alles, was er bis heute erlebt hatte. Wie er zum ersten Mal mit dem Vater quer durch den Weiher geschwommen war, wie sie im Schlingpflanzendickicht Verstecken gespielt hatten, wie er danach auf dem Rücken des Karpfens Cyprinus zurückreiten durfte. Die Fahrt mit dem hölzernen Kasten - die Rutschpartie übers Mühlenrad - und die silberne Mondnacht am Ufer ...
Sehr schön war das alles gewesen, so schön, dass sich gut und gern einen Winter lang davon träumen ließ.
„Gute Nacht, kleiner Wassermann!", hörte er jemanden sagen.
Die Stimme schien weit aus der Ferne zu kommen. Wer war das nur, der da gesprochen hatte? Es war eine gute Stimme, er kannte sie.
„Gute Nacht, kleiner Wassermann!", sagte die Stimme noch einmal. - Da wusste der kleine Wassermann, dass es die Stimme der Mutter gewesen war. Und er freute sich, dass er die Mutter noch einmal gehört hatte, ehe er vollends hinüberschlief - in den traumhellen Wassermannwinter.
Otfried Preußler
(geboren am 20. Oktober 1923 in Reichenberg, Tschechoslowakei; gestorben am 18. Februar 2013 in Prien am Chiemsee)
Otfried Preußler hat es den literarischen Idiotenhügel genannt - ich besteige diesen Hügel jeden Morgen. Wenn die Kräfte reichen, klingelt der Wecker um fünf. Am Wochenende reichen die Kräfte immer - dann klingelt er um sechs. Der Aufstieg ist bequem, es geht nur zwei Treppen rauf. Die Frage ist, ob ich noch schlafe. In jedem Fall sind die seltsamen Gestalten, denen ich auf dem Idiotenhügel begegne, erträumt. Die Erste von ihnen war ein blinder Bibliothekar (kein sonderlich origineller Traum), der jemandem winkte, den er nicht sehen konnte. Weil ich damals keine Zeit hatte (ich habe immer noch keine), glaubte ich, er spiele in einem Bilderbuch mit. Nach ein paar Monaten allerdings dämmerte mir, dass Bilderbücher, die 300 Seiten und keine Bilder haben, vermutlich keine Bilderbücher sind. Seitdem entstehen, während über dem Idiotenhügel der Tag anbricht, eben Romane für Kinder - in denen, so mein Verdacht, öfter als planetarisch üblich der Tag anbricht. Ich verstehe mich mittlerweile auf sommerliche Sonnenaufgänge so gut wie auf das schimmernde Blau eines Februarmorgens mit Schnee oder die Stockfinsternis einer Dezemberfrühe und bin, bei so unterschiedlichen Lichtverhältnissen,
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