Der Knochendieb
Gott, das ist ja Blut!«
Die Erinnerung an den Selbstmord seiner Mutter verfolgte ihn an jedem Tag seines Lebens.
»John? Alles in Ordnung?«
Das war die Stimme von Sergeant Margaret Aligante, einem Mitglied von Driscolls Eliteteam. Sie war soeben am Tatort eingetroffen.
»Alles bestens.«
»Einen Moment lang dachte ich, du hättest ein Gespenst gesehen.«
»Was sagen Sie dazu, Larry?«, erkundigte sich Driscoll und ignorierte Margarets Bemerkung.
»Mord. Brutaler Mord. Und ich würde sagen, das hier ist nur der Ablageort, nicht der Tatort. Keine Blutspritzer. Die Leute von der Spurensicherung haben sich schon ausgiebig mit der Leiche und der Umgebung befasst, aber bis jetzt haben sie noch kein Fitzelchen einer Spur gefunden.«
»Der Regen ist auch nicht gerade hilfreich«, sagte Margaret.
»Vielleicht haben die Jungs ja doch was übersehen«, murmelte Driscoll und beugte sich über die ausgeweidete Leiche. Sein scharfer Blick hatte ein winziges Stück eines Fremdkörpers aus den verstümmelten Schamlippen ragen sehen. Zu seinem eigenen Schutz und aus Respekt vor der Toten streifte er Handschuhe über, ehe er den Gegenstand aus der fleischigen Wunde zog.
MCCABE, DEIRDRE
ID-NUMMER: 31623916
ABLAUFDATUM: 4.2.08
SEHHILFE KLASSE D
ORGANSPENDERIN
Von dem im Staat New York ausgestellten Führerschein lächelte eine jugendlich wirkende Rothaarige in die Kamera.
»Hier liegt Deirdre McCabe«, erklärte Driscoll. »Und irgendein krankes Schwein hat sich verdammt viel Mühe gegeben, uns miteinander bekannt zu machen.«
5. KAPITEL
In dieser hektischen Stadt gibt es einen Zufluchtsort, eine Halbinsel im Archipel von New York, die sich vom Atlantischen Ozean bis zur Jamaica Bay erstreckt. Diese Gegend namens Toliver’s Point, wo sommersprossige Kinder und stämmige Arbeiter leben und die Möwen auf den Sommeranfang warten, liegt eingeklemmt zwischen Himmel und Meer direkt hinter den Stützpfeilern der Marine Parkway Bridge am Stadtrand von New York.
Eine hölzerne Pier führt etwa hundert Meter weit in die Bucht hinaus. Ganz vorn an der Spitze stand Lieutenant Driscoll. Dieser Ort mit seiner Stille und der natürlichen Schönheit seiner Küste zog ihn magisch an. Hinter ihm lag die beschauliche Ruhe von Toliver’s Point, doch vor ihm, auf der anderen Seite der zwei Meilen breiten Wasserstraße, lief ein Mörder frei herum.
Er schob die aktuellen Ereignisse beiseite und dachte
an frühere Zeiten zurück. Colette hatte Toliver’s Point entdeckt, als sie in der Klasse für Landschaftsmalerei an der Art Students League die Aufgabe bekommen hatte, den schönsten Flecken New Yorks ausfindig zu machen. Sie hatte die Stelle unwiderstehlich gefunden und sich geschworen, dort ein Haus zu bauen, sobald sie die nötigen 25 000 Dollar Grundkapital beisammenhätte. Nach fünf Jahren als Musterdesignerin bei der Textilfirma Bertillon in Manhattan hatte sie genug gespart, um eine Anzahlung für ihre erste am Meer gelegene Immobilie zu leisten, einen Sommerbungalow in Toliver’s Point.
Als Sergeant John Driscoll zum ersten Mal auf der Halbinsel eingeladen war, fühlte er sich auf eine ferne Insel versetzt, wo Colette für ihn, einen jungen und unerfahrenen Odysseus, die Calypso gab. Nach ihrer Heirat renovierten sie den Bungalow und machten ihn winterfest, sodass sie ihn ganzjährig bewohnen konnten.
Als Colette eines Nachmittags im Mai Nicole zu ihrer allwöchentlichen Flötenstunde fuhr, rammte ein mit Benzin beladener Tanklastzug ihren Plymouth Voyager. Die schrecklichen Szenen gingen Driscoll nicht mehr aus dem Sinn. Colettes eingedrückter Minivan, die zersplitterte Windschutzscheibe, der leblose Körper seiner Tochter, der umgekippte Riesenlastzug mit seinen achtzehn Rädern, die zerquetschte Hand seiner Frau mit dem blinkenden Ehering, das Jaulen der Krankenwagensirene, die Höllenfahrt zum Krankenhaus … und sein Schmerz.
Nach dem Unfall, der ihm die vierzehnjährige Nicole genommen und seine Frau in einen dauerhaften Dämmerzustand versetzt hatte, war seine Welt eine andere geworden. Driscoll, der glückliche Ehemann und liebevolle Vater, war zu Driscoll, dem Pfleger und trauernden Vater
geworden. Der Bungalow, einst ihr Paradies, hatte sich in eine Intensivstation verwandelt. In dem Raum, der früher Colettes Atelier gewesen war, lag sie nun in einem professionellen Pflegebett, umgeben von einem Puls-Oximeter, einer Absaugmaschine, einem Beatmungsgerät, einer Pumpe für die Verabreichung enteraler Sondennahrung
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