Der Knochendieb
ihre Lebendigkeit verloren und grüßten nur noch stumm ihre Schöpferin, die reglos in ihrem früheren Atelier lag. Das Aroma von frischen Pfingstrosen und Terpentin war der Schärfe antiseptischer
Lösungen und dem sterilen Geruch gebleichter Klinikbettwäsche gewichen.
Colette lag mit geschlossenen Augen und offenem Mund da und atmete die reine Luft ein, die durch Plastikschläuche erst in ihre Nase und dann in ihre Lunge strömte. Ihr Teint war aschfahl und matt. Ihr einst so glänzendes Haar lag nun stumpf und flach um ihren Kopf.
»Bon soir, ma chérie«, flüsterte er und küsste sie auf die Stirn.
»Wir hatten einen schönen Tag«, flötete Colettes jamaikanische Krankenschwester Lucinda, die ihr gerade die Füße massierte.
Driscoll holte den Cremetiegel heraus, und Lucinda riss die Augen auf.
»Das habe ich seit meiner Kindheit in Kingston nicht mehr gesehen«, sagte sie, schraubte den Tiegel auf und atmete den Duft ein. »Es gibt nichts Besseres für die Haut.« Sogleich begann sie, Colettes Knöchel damit einzucremen.
»Sie können Pause machen, wenn Sie damit fertig sind, Lucinda. Ich löse Sie ab.«
Die Schwester schraubte den Tiegel zu und stellte ihn auf Colettes Nachttisch, ehe sie sich in ihr Zimmer zurückzog.
Allein mit seiner Frau, machte Driscoll es sich auf dem Sessel neben ihrem Bett bequem, während die elektronischen Gerätschaften Colettes Vitalfunktionen maßen und den Fortbestand ihres Lebens überwachten.
»Ich erzähl dir, was ich heute erlebt habe«, begann Driscoll. »Ich war an der Pier in der Nähe von Sullivans Taverne. Weißt du noch, wie wir damals den Katamaran
ins Wasser gelassen haben, Liebling? Du bist kreidebleich geworden, als wir aufs Wasser trafen, und noch bleicher, als uns die erste Welle fast umgeworfen hätte.«
Colettes Atem stockte. Auf der Beatmungsmaschine erschien eine unregelmäßige Linie. Nach zehn Sekunden würde der Alarm losgellen. Driscoll sprang auf und sah zu, wie die Digitaluhr das Verstreichen der Sekunden verzeichnete. Drei … vier … fünf. Panik packte ihn. Würde sie jetzt und hier unter seinen Augen sterben, während er hilflos daneben stand? Sieben … acht. Mein Gott, sie starb ihm weg.
Nein. Auf einmal atmete sie wieder ganz normal. Die Linie bewies, dass ihre Lunge arbeitete und ihren Körper mit Sauerstoff versorgte.
Was war gerade geschehen? Hatte sie geträumt? Von ihm vielleicht? Was hatte ihr den Atem verschlagen?
Driscoll lockerte seine Krawatte und ließ sich in den Sessel zurücksinken. Er schaltete die Stereoanlage an und legte eine neue CD ein. Der Klang von Jean-Pierre Rampals Flöte erfüllte den Raum. Driscoll trottete in die Küche, zog eine Tüte gefrorene Muscheln aus dem Gefrierfach und legte sie zum Auftauen in die Mikrowelle. Colette hatte ihn in die Kunst der französischen Küche eingeführt, worauf er seine Standardernährung aus Hamburgern und Pommes gegen die Feinheiten von Coq au vin, Agneau à l’estragon, Escalopes à la colonnade und Tranche de bœuf au madère eintauschte.
Heute Abend würde es Coquilles chambrette geben, eine Mischung aus Muscheln, Zitronensaft, Worcestershire-Sauce, Cognac und Wein. In fünfzehn Minuten hatte er das Gericht fertig und kehrte mit seinem Teller zum Sessel an Colettes Bett zurück.
Auf einmal piepte der Herzmonitor los. Das elektronische Zickzackmuster hatte sich verändert. Der Rhythmus wirkte hektischer.
»Lucinda!«, rief Driscoll.
Die Schwester kam im Bademantel hereingestürzt.
»Der Herzschlag ist ganz plötzlich hochgeschossen. Jetzt ist er bei achtundneunzig!«
»Das sehe ich«, entgegnete Lucinda mit einem Blick auf den Monitor. »Aber das bedeutet keine Gefahr, Sir. Er müsste schon auf über hundertzehn steigen, um problematisch zu werden.«
»Warum hat er sich denn verändert?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie drehte an einem Knopf am Monitor, bis der Bildschirm sich verdunkelte, ehe sie den Knopf schließlich wieder in die Ausgangsposition zurückdrehte. Das unruhige Zickzackmuster erschien erneut.
»Das Gerät arbeitet jedenfalls einwandfrei«, stellte sie fest.
Die Musik verstummte. Es war das letzte Stück auf der Rampal-CD gewesen. Das Zickzackmuster auf dem Herzmonitor nahm wieder seine gewohnte Form an.
»Jetzt liegt er wieder bei zweiundsechzig«, sagte Lucinda. »Der Wert ist gesunken, sowie die Musik aufgehört hat.«
Driscoll eilte zur Stereoanlage und drückte die Play-Taste des CD-Spielers. Dann drückte er elfmal die rechte
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