Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
konnte sie den Mann wiederfinden, mit dem sie gelebt und den sie geliebt hatte.
Vielleicht bekam sie ihn an diesem Tag endlich zu fassen.Vielleicht entgleite auch ich eines Tages denen, die mit mir leben, die mich lieben und mich kennen sollten; in diesem Augenblick werde ich meinen so lange verlorenen Vater finden.
Bis es so weit ist, suche ich unter den Toten nach anderen Menschen. Sie bekomme ich zu fassen, von vorzeitlichen Indianern bis zu heutigen Mordopfern. Tausende und Abertausende von anderen.
2
Indianerleichen und Staudammbauer
D er Himmel über den Ebenen von South Dakota war tiefblau und verdunkelte sich ganz oben fast ins Violette. Im Westen fielen unregelmäßige graue Regenvorhänge aus hoch aufgetürmten Kumuluswolken, aber sie verdunsteten, lange bevor sie den Erdboden erreichten. Aus fast 5000 Metern Höhe konnte ich durch das Flugzeugfenster ein weites Stück der hügeligen Prärie überblicken. Gras und Gebüsch waren fast völlig braun; noch brauner war der Missouri, der sich schlammig von Nordwesten durch die Landschaft schlängelte und noch schlammiger nach Südosten wieder aus dem Blickfeld verschwand. Man hatte mir gesagt, es gebe hier nur wenige grüne Flecken: kleine Kreise mit üppigem Gras, die sich irgendwo nördlich von uns über die Hügel am Flussufer verteilten und die Lage eines alten Dorfes der Arikara markierten. Wir schrieben den Sommer 1957, vor mir lag ein gewaltiger neuer Horizont, und meine Spannung wuchs.
Als die Motoren gedrosselt wurden und die DC-3 der Frontier Airlines durch die Turbulenzen langsam tiefer ging, stieg ein neues Gefühl in mir auf: Reisekrankheit, meine lebenslange Achillesferse. Glücklicherweise war das Flugzeug unten, bevor mir das Frühstück hochkam.
Am späten Vormittag landeten wir in Pierre. Die wenigen Passagiere traten mit eingezogenen Köpfen durch die ovale Öffnung im Flugzeugrumpf, kletterten die Treppe hinunter und gingen in die weiß getünchte einzige Halle des Flughafens. Ich sah mich nach Bob Stephenson um, dem Archäologen der Smithsonian Institution. Er hatte versprochen, mich abzuholen, aber jetzt konnte ich ihn nirgendwo entdecken. Wenig später waren die anderen Passagiere verschwunden, und ich stand allein in der leeren Wartehalle, weit weg von zu Hause.
Der Kontrollturm des Flughafens sah aus wie ein Baumhaus auf Stelzen. Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, kletterte ich hinauf und fragte den Fluglotsen, ob er die Archäologen kenne, die in der Nähe der Stadt tätig waren. Ich erklärte, Dr. Stephenson habe zugesagt, mich abzuholen und zu ihrer Arbeitsstelle zu bringen. »Na, der ist vermutlich irgendwo im Schlamm stecken geblieben«, sagte der Fluglotse. »Letzte Nacht hatten wir eine Menge Regen, und wenn es hier feucht ist, wird alles ganz schön glitschig.« Am Spätnachmittag tauchte Bob schließlich auf. Er war von oben bis unten voller Schlamm und entschuldigte sich vielmals. Drei Stunden hatte er festgesessen. Damals wusste ich noch wenig, aber auch ich sollte - aus freiem Willen - ebenfalls hier hängen bleiben, und zwar während der nächsten 14 Sommer.
Dass ich nach South Dakota gekommen war, war dem gemeinsamen Einfluss des U.S. Army Corps of Engineers, der Smithsonian Institution und der letzten Eiszeit zu verdanken (die, das sollte ich hinzufügen, schon ein wenig vor meiner Zeit zu Ende war). Vor 20 000 Jahren drang eine dicke Kappe aus Gletschereis erbarmungslos über die großen nordamerikanischen Ebenen nach Süden vor. Sie schob Berge von Erde und Gestein vor sich her, zerrieb Felsen zu feinkörnigem Schwemmlandboden und gab Millionen Quadratkilometern der Erdoberfläche ein ganz neues Gesicht.
Jetzt war eine ebenso erbarmungslose Armee aus Ingenieuren, Archäologen und Anthropologen in der Prärie eingefallen, und auch sie hatten eine Reihe von Änderungen vorgenommen. Die Ingenieure hatten das Gelände unter Wasser gesetzt; wir anderen waren hektisch mit Ausgrabungen beschäftigt, durchstöberten und durchsiebten den Boden nach vergrabenen Schätzen - archäologischen Kostbarkeiten. Es war ein verzweifelter Wettlauf gegen die steigenden Fluten des neu aufgestauten Flusses Missouri.
Der Missouri ist vielleicht der am meisten unterschätzte Fluss der Welt. Bei uns in den Vereinigten Staaten steht er im Schatten des Mississippi, und das ist nach meiner Überzeugung höchst ungerecht. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Der Mississippi ist ein gewaltiger Fluss. Mit seinen 3779 Kilometern vom
Weitere Kostenlose Bücher