Der König der Diamanten
Trave über den Tisch hinweg an.
»Das habe ich mir gedacht. Er hatte einen Posten, einen wichtigen Regierungsposten. Und zwar im Referat IV B4 der Geheimen Staatspolizei, das seinen Sitz in der Kurfürstenstraße 116 in Berlin hatte und für jüdische Angelegenheiten zuständig war. Chef dieses sogenannten ›Judenreferats‹ war ein Mann namens Eichmann, Adolf Eichmann. Haben Sie von ihm gehört, Miss Claes? Mit Sicherheit. Er war in letzter Zeit oft im Radio, denn er wird bald in Jerusalem vor Gericht stehen. Er wird beschuldigt, der wichtigste Organisator des Holocaust zu sein, der Auslöschung der Juden …«
»Nein.« Es war weniger ein Wort als vielmehr ein Schrei aus Janas Brustkorb.
Aber Trave ließ sich durch die Unterbrechung nicht beirren. »Oh ja, Miss Claes. In Berlin wurde Ihr Bruder in den Rang eines SS-Sturmbannführers erhoben, was einem Major der Wehrmacht entspricht. Als Ausländer hätte er das nicht werden können, aberda bestand ja auch kein echtes Problem, oder? Er stammte ja auch nicht aus Belgien, sondern aus Deutschland. Genau wie Sie, stimmt’s, Miss Claes? Also wurde er Ende 1943 einfach wieder der Franz Kleissen, der er auch gewesen war, bis Sie beide 1931 nach Belgien zogen. Ich weiß nicht, warum Sie von Deutschland weggingen oder warum Sie Ihren Namen änderten. Vielleicht, um während der Wirtschaftskrise damals Arbeit zu bekommen. Aber das spielt ja auch keine Rolle. Jedenfalls wurde aus Franz Claes der Sturmbannführer Kleissen, dessen Aufgabe war, Juden zu töten – sie nicht nur in Belgien, sondern in ganz Europa in Viehwaggons zu pferchen und in die Vernichtungslager zu verfrachten.«
»Sie lügen. Das ist nicht wahr«, schrie Jana und stand vom Tisch auf. Ihre Hände waren geballt, und Clayton dachte für einen Moment, sie würde auf Trave losgehen. Aber der verzog keine Miene.
»Leider ist es doch wahr«, sagte er. »Ich habe auch Dokumente und Fotos, die das belegen. Schauen Sie, dies hier ist Ihr Bruder in Uniform neben Eichmann. Der Mann hier rechts ist Heinrich Müller, der Chef der Gestapo. Sie stehen vor dem Hauptquartier der SS in Berlin. Und auf diesem Foto ist er in Auschwitz mit dem Lagerkommandanten Rudolf Höss. Sie stehen auf der Rampe, dort wo die Schienen endeten, und die Menschen im Hintergrund sind die Juden eines ›Sonderkommandos‹, dessen Aufgabe es war, die Habseligkeiten der Männer, Frauen und Kinder einzusammeln, die soeben in den Tod geschickt wurden. Es scheint, als hätte Ihr Bruder sich in Auschwitz seine Gesichtsverletzung zugezogen. Einer der Häftlinge attackierte ihn bei einer Inspektion und wurde dafür gehängt, also ist es keine Kriegsverletzung. Und hier sieht man Ihren Bruder am Lagereingang. Sehen Sie die Aufschrift über dem Tor, Miss Claes? ›Arbeit macht frei‹? Er ist es, Jana, daran besteht kein Zweifel. Hier bitte, schauen Sie sich die Bilder in Ruhe an.«
Trave brach ab und breitete sie auf dem Tisch aus.
»Woher haben Sie die?«, fragte Jana und setzte sich wieder hin.
»Aus Jerusalem. Ich bin vor zwei Tagen hingeflogen, um dieLeute zu treffen, die den Eichmann-Prozess vorbereiten, und die haben sie mir gegeben. Sie wussten sofort, wer er war, als ich ihnen ein Foto von ihm zeigte. Die Israelis hätten ihn liebend gern vor Gericht gestellt, wenn sie ihn hätten ausfindig machen können. Aber ich habe ihnen gesagt, dass er tot ist und nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann. Niemand kann ihn zurückbringen, und niemand kann ändern, was er getan hat. Aber es gibt etwas, das Sie tun können, eine Kleinigkeit, um wenigstens ein Stück weit für Wiedergutmachung zu sorgen. Und zwar jetzt, bevor es zu spät ist.«
»Was denn? Was kann ich tun?«, fragte Jana kaum hörbar.
»Sie können die Wahrheit sagen. In London ist ein Mann kurz davor, für ein Verbrechen gehängt zu werden, das Ihr Bruder begangen hat. Aber wenn Sie sagen, was mit Katya wirklich geschehen ist, kann er zu seiner Familie zurückkehren. Und Sie müssen nicht für den Rest Ihres Lebens die Schuld an seinem Tod mit sich herumtragen.«
»Was wird mit mir geschehen, wenn ich die Wahrheit sage?«, fragte Jana ängstlich. »Ich habe sie eingesperrt. Ich habe gelogen.«
»Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, sagte Trave. »Aber im Moment sollten Sie sich eher Sorgen um Ihre unsterbliche Seele machen, und nicht um die britische Gerichtsbarkeit. Ich weiß, dass für Sie als Katholikin die Vergebung Ihrer Sünden wichtig ist. Und dafür müssen
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