Der König von Havanna
noch die Aasgeier oder die Leute. Eine Zeit lang überlegte er, von woher er am besten an die Müllhalde herankam und wo er ein Loch graben konnte. Als er genau wusste, was zu tun sein würde, kehrte er zu seinem Häuschen zurück, ohne dass man ihn sah. Der Gestank Magdalenas war entsetzlich.
»Jetzt reicht mir dein Gestank. Heute Abend kommst du ins Loch. Hör verdammt noch mal auf zu verwesen! Das machst du nur, um mich über deinen Tod hinaus zu ärgern! Um dich sogar noch im Tod über mich lustig zu machen! Sei jetzt nicht so ein stinkendes Schwein! Hör auf mit der Verwesung!«
Den Rest des Tages verbrachte er im Schatten. An die Tür seines Häuschens gelehnt. Am Nachmittag kreisten die ersten Aasgeier über seinem Kopf. Einige landeten träge, verharrten in zwanzig, dreißig Meter Entfernung, erkundeten das Terrain. Sie hatten den Kadaver gerochen. »Da kommen deine kleinen Freunde, Magdalenita, willst du sie nicht empfangen? Geh hinaus und begrüße deine kleinen Freunde, Magdalenita. Los, spielt eure kleine Komödie. Sie fressen dich, und du hast deine Ruhe, hahaha.« Er warf ein paar Steine nach den Totenvögeln. Sie flatterten auf, schlugen ein paar Mal mit den Flügeln und nahmen wieder ihre Stellung ein. Aasvertilgung war ihre einzige Berufung. Und die mussten sie erfüllen. Schließlich wurde es dunkel. Er verharrte ganz still, lauschte, hatte es nicht eilig, dachte: »Du bist Schlange, Taube, Schwert – El Rey, der König. Also Ruhe, keine Eile. Die kleine Nutte soll ruhig noch etwas warten.« Nichts. Absolute Stille. Er betrat das Häuschen. In der Dunkelheit tastete er nach der Leiche. Steif, kalt, teuflisch stinkend. Er nahm sich zusammen und lud sie auf seine Schulter.
»Rauf mit dir, du Schlampe, ab geht’s.« Jetzt kannte er den Weg. Langsam, ohne Eile, den Wunsch unterdrückend, diesen stinkenden Körper abzuwerfen. Der Leiche troff widerlicher, klebriger Schleim aus Ohren, Nase, Mund, Augen, und sie hinterließ eine grauenvoll stinkende Spur. Er kam zur Spitze des Hügels, kauerte sich nieder, sah sich eine Zeit lang aufmerksam um. Im ganzen Umkreis war niemand. Langsam ging er zwischen dem Gestrüpp hinunter zur Müllhalde. Er kam zu den großen, faulenden Müllhaufen und sank bis zu den Knien ein. Noch ein Stück weiter, und er hatte die vorgesehene Stelle erreicht. Er warf die Leiche ab und begann mit den Händen zu graben. Eine ganze Weile grub er so, warf Gegenstände beiseite, im Laufe der Jahre abgelagerter Unrat. Plötzlich spürte er einen heftigen Schmerz im Fuß, dann noch mal. Er sah nach. Ratten! Viele Ratten, die ihn bissen. Er griff sie an, warf Dinge nach ihnen. Die Ratten fraßen die Leiche. Zwanzig. Dreißig. Es kamen immer mehr und mehr. Vierzig. Immer mehr. Sie bissen ihr in die Arme, in die Hände, ins Gesicht. Er entriss ihnen die Leiche. Die Ratten quiekten und stürzten sich auf ihn.
»Weg hier, ihr Dreckspack, weg hier! Sie kommt ins Loch!«
Es gelang ihm, die Leiche in das Loch zu werfen. Die Ratten setzten beißend hinterher, rasend nach dem Fleisch. Sie rissen Stücke aus der Leiche. Und sie bissen ihn und rissen Fetzen aus seiner Haut. Er warf Müll nach der Leiche und den Ratten, bedeckte sie, so gut er konnte. Ein paar Ratten liefen weiter darüber und griffen ihn unentwegt an. Schließlich war er fertig. Sein ganzer Körper schmerzte. Dutzende Bisse, vielleicht hundert oder noch mehr. Die Ratten waren riesig, kräftig, wild. Sie hatten ihm Stücke aus Armen, Händen, Gesicht, Bauch und Beinen herausgerissen. Er war kaputt. So gut er konnte, setzte er seinen Weg fort, schleppte sich zu seinem Häuschen. Fast eine Stunde brauchte er dafür. Er trat ein und warf sich auf den Strohsack. Ihm war schwindlig, kotzübel. Der ganze Körper tat ihm weh. Dann schlief er ein. Als er aufwachte, wusste er nicht, ob Tag oder Nacht war. Fast bekam er nicht die Augen auf. Er wusste es nicht, aber er hatte vierzig Grad Fieber, das immer weiter bis auf zweiundvierzig Grad anstieg. Er erbrach. Die Übelkeit, der Schwindel, die Kopfschmerzen, das Fieberdelirium. Alles vereinigte sich, um ihn zu zerquetschen wie eine Kakerlake. Und er konnte nicht aufstehen. Vor seinem Auge zogen Bilder des Wahns vorüber. Eines nach dem anderen. Seine sterbende Mutter mit dem ins Gehirn gegrabenen Stahlstift. Seine vor ihm erstarrte Großmutter. Sein auf dem Asphalt zerschmetterter Bruder. Er selbst beim Betteln mit der Heiligenfigur. Er hatte großen Durst, wollte Wasser. »Magda, gib mir
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