Der König von Sibirien (German Edition)
Hoffnung auf ein Wiedersehen. Aber zwischen so unterschiedlichen Welten, denen sie entstammten, gab es kein Wiedersehen. Er, Alexander Gautulin, Russe und Student der Lomonossow-Universität und sie, Hellen Birringer, Dolmetscherin aus Westdeutschland.
Er schloss die Augen und klammerte sich an die jüngste Vergangenheit. Eine Vergangenheit ohne Zukunft, trotz aller Versprechungen und der Aufrichtigkeit, mit der sie sich ihre Gefühle gestanden. Genau das machte den Abschied so schmerzlich. Eine Nacht, auch zwei oder drei nur so zum Spaß, es würde ihn nicht berühren. Aber das mit Hellen war etwas anderes.
Alexander erhob sich vorsichtig, das Bett quietschte. Er ging barfuss zum Fenster, schob den Vorhang zur Seite, drückte die Stirn gegen die kühle Glasscheibe, das tat gut. Vier Stockwerke tiefer schwoll der Verkehr auf dem Marx-Prospekt allmählich an. Dumpf polterten, Metall schlug auf Metall, die vorbeirollenden Lkw, die um diese frühe Stunde wie bei einer Invasion von der Metropole Besitz ergriffen und sie mit allen lebensnotwendigen Dingen versorgten. Während er den Fahrzeugen nachschaute, fragte er sich, warum er so viel für Hellen empfand. Was faszinierte ihn so an ihr? Es war nicht nur ihr Körper und die Art, wie sie sprach, sich gab, ihn ansah. Oder die vielen kleinen Indizien der Zuneigung, ein Blick, dann ein Lächeln, die kurze elektrisierende Berührung ihrer Hände. Es war ... Er wusste es nicht. Und sich etwas nicht erklären zu können, setzte ihm zu.
Alexander wurde sich zum ersten Mal der Abhängigkeit von Gefühlen bewusst, und er hatte Angst, nicht: damit fertig zu werden. Gefühle konnte er weder greifen noch mit seiner Logik erfassen. Sie kamen und gingen, ohne sich an-oder abzumelden, und sie ließen sich in ihrer Intensität nicht bestimmen. Ein Zustand, reizvoll und beängstigend zugleich.
Die Dielen des Holzbodens knarrten auf dem Weg ins Bad. Er trank einen Schluck Wasser, es schmeckte stark nach Chlor. Im Spiegel glaubte er ein fremdes Gesicht zu sehen. Er, sonst immer voller Lebensfreude, starrte sich mit glanzlosen Augen an.
»Alex, kannst du nicht schlafen?«
»Ich hatte Durst.« Er löschte das Licht und legte sich neben sie. Als sie sich an ihn presste, wurde für ihn die Situation unerträglich. Sie, im Augenblick noch bei ihm, aber bereits heute Nachmittag im Flugzeug auf dem Weg zurück in den Westen.
»Alex, was ist mit dir?«
Er küsste ihre Stirn. »Ich bin traurig.«
»In drei Monaten bin ich wieder in Moskau. Bis dahin können wir uns schreiben. Über die Deutsche Botschaft. Gib deine Briefe dort ab, sie werden sie an mich schicken. Später sehen wir dann weiter.«
»Ja, später sehen wir weiter.«
Aber was wollten sie weitersehen? Etwa die gemeinsame Zukunft planen? Unmöglich, bei der heutigen politischen Konstellation auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. In den Weltraum fliegen war einfacher, als aus seinem Land in ein anderes zu wechseln. Und während er daran dachte, wie konspirativ sie hatten vorgehen müssen, damit sie gemeinsam diese Nacht und die vergangenen Nächte im Hotel National verbringen durften, resignierte er.
»Oder sind da immer noch ...«, sie tippte in die Herzgegend, »... immer noch die alten Zweifel?«
»Welche?« Er wusste genau, auf was sie anspielte.
»Wie hast du mich vor wenigen Tagen genannt?«
Er legte ihr einen Finger auf den Mund, ihm war das Thema unangenehm. Nein, eine liebeshungrige Katharina war sie nicht.
»Habe ich dich inzwischen ...?«
»Deine und meine Gefühle haben mich überzeugt.«
»Machst du dir auch nichts vor?«
Alexander sah sie nur an. Seine Brust hob und senkte sich, er war voller Melancholie. Hellen bemühte sich, ihn aufzumuntern, und merkte selbst, sie gab sich bewusst optimistisch. Da ihre Worte keine Wirkung zeigten, liebkoste sie ihn mit einer Leidenschaft, die genauso unmissverständlich auf die bevorstehende Trennung hindeutete wie alles andere auch. Sie zog ihn näher, beugte sich über ihn, spreizte die Beine und spürte ihn eindringen.
Er musste eingeschlafen sein. Geweckt wurde er durch die Sonne, die den Spalt zwischen den Vorhängen entdeckt hatte. Er ruckte hoch, das Bett neben ihm war leer. Im Bad rauschte die Dusche, Hellen summte ein Lied. Er ließ sich wieder nach hinten sinken.
»Komm, aufstehen, du Faulpelz«, gab sie sich betont lustig, als sie, in ein Handtuch gehüllt, zu ihm trat. »Gleich gibt es Frühstück.«
Eine halbe Stunde später saßen sie sich im
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