Die Namenlose
1.
Der Raum maß höchstens fünf Schritte im Viereck. Den Boden zierte ein kunstvoll gearbeitetes Mosaik, dessen Farben im Laufe der Zeit verblaßt waren. Aber noch strahlten die Darstellungen etwas von ihrer einstigen Schönheit aus. Viele kleine Bilder ergänzten sich zu einem Ganzen; sie zeigten sonnenüberflutete Inseln inmitten strahlend blauer See und ließen Ansiedlungen erkennen, die sich trutzig an den Küsten erhoben. Große Schiffe lagen in den Häfen, und über allem dominierte das Antlitz einer Frau, als hielte sie Wache über dieses Land.
Der Blick ihrer steinernen Augen war dazu angetan, jeden Betrachter schaudern zu lassen. Allerdings lag nichts Böses in ihnen, nur ein Ausdruck erhabener Größe.
»Das Reich Singara«, sagte Scida mit leiser Stimme.
Kalisse zuckte mit den Schultern. Während sie langsam weiterging, schien das Mosaik sich zu verändern.
»Wer ist sie, die den Schein einer Zaubermutter trägt?« fragte Kalisse.
Niemand konnte ihr Auskunft geben. Und Sosona, die es vielleicht vermocht hätte, schwieg.
Die Frauen, die in diesem Raum gefangen waren, redeten nicht, sondern stierten stumpfsinnig vor sich hin. Schmutz bedeckte zum größten Teil ihre bleiche Haut.
»Nennt mir wenigstens eure Namen, damit ich weiß, mit wem ich rede.« Kalisse trat vor die beiden hin und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. Ein scheuer Blick streifte sie, während gleichzeitig ein Funke von Hoffnung in diesen tief in den Höhlen liegenden Augen aufglomm.
»Ich bin Gerta…«, fahrig fuhr jene sich durch ihre verfilzten schwarzen Haare, »…und sie heißt Omera.« Die andere, rotblond, mit im Nacken zu einem Nest geflochtenen Zöpfen, sah nicht einmal auf. »Sie hat mit dem Leben abgeschlossen, seit ihr Bruder bei einem Fluchtversuch ums Leben kam«, erzählte Gerta weiter.
»Wie lange ist das her?«
»Fünf, sechs Tage…«
»Ihr wart mehrere?«
»Zehn«, nickte sie heftig. »Aber oft kamen die Tritonen und holten einen von uns, bis wir versuchten, zu fliehen… Seither haben wir kaum noch zu essen, und die Fischmenschen kümmern sich nicht mehr um uns.«
»Wo sind wir?« fragte Kalisse weiter.
»Auf dem Grund des Meeres«, sagte Gerta und erhob sich mühsam. »In Ptaath?«
»Selbstverständlich. Wo sonst?«
»Eine Flucht ist nur dann sinnvoll, wenn man mindestens einen Ort kennt, an dem man sich verbergen kann«, warf Gorma ein.
»Gibt es den?«
Je länger sie redete, desto mehr schien Gerta zu sich selbst zurückzufinden. Langsam wich der fiebrige Glanz aus ihren Augen, auch bekamen ihre Wangen wieder Farbe. »Überall in Ptaath gibt es Luftblasen, viele der alten Gebäude dienen auf diese Weise als Kerker.
Kennt ihr die Wasserspinnen, die trichterförmige Netze an der Oberfläche spannen und sie hinter sich her ziehen, wenn sie nach Beute tauchen? Die Fäden sind dicht genug, um die benötigte Atemluft nicht entweichen zu lassen. Das Opfer wird dann in dieser Blase ausgesaugt. Ähnlich machen es die Tritonen, sie sind Bestien.«
»Woher weißt du…?«
»Einer dieser Fischmenschen hat vieles erzählt. Er war es auch, der uns zur Flucht überredete. Aber ich glaube, er wollte uns nur leiden sehen. Ich wünsche allen die Pest an den Hals, umkommen sollen sie samt ihrer Göttin.« Gerta unterbrach ihren Redefluß, als Sosona, Aufmerksamkeit heischend, beide Arme hob.
»Wer war dieser Tritone?« wollte die Hexe wissen.
»Lear, glaube ich.«
»Learges?«
»Ja, so hieß er wohl.«
»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst«, brauste Gorma auf. »Aber brauchst du einen besseren Beweis, um zu erkennen, daß der Okeazar ein Verräter ist? Auch uns hätte er beinahe in den Tod geführt.«
»Learges Gesinnung ist über jeden Zweifel erhaben«, erwiderte die Hexe.
»Wie willst du das wissen?«
»Vergiß nicht, wer ich bin, Amazone«, kam es scharf zurück.
Gorma schlug mit der Faust auf den Knauf ihres Seelenschwertes.
»Ich denke, deine Fähigkeiten haben gelitten…«
»Keineswegs in dem Ausmaß, daß mein Kopf leer wäre wie der einer vorlauten Kriegerin.« Sosona wandte sich einfach ab und ließ Gorma stehen. Der Amazone war anzusehen, daß es in ihr kochte. Gleichzeitig erkannte sie, daß sie nahe daran war, den Zorn der Hexe auf sich zu ziehen.
»Es liegt mir fern, die Beraterin Burras zu maßregeln«, sagte sie deshalb. »Ich versuche nur, die Gefahr aufzuzeigen, der wir ausgesetzt sind.«
»Nimm dich der Tritonen an, sollten sie wieder angreifen - mehr verlange ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher