Der Kommissar und das Schweigen - Roman
sommeröde da, die Luft war angenehm kühl unter dem hohen Gewölbe, als der Hauptkommissar durch die Tür trat. Mahler saß wie üblich ganz hinten unter dem Dürerstich; überraschenderweise sah er finster drein, und Van Veeteren erinnerte sich daran, dass er direkt aus Chadów kam, von der Beerdigung einer Tante.
»Vermisst du sie?«, fragte er überrascht. »Ich dachte, du hättest behauptet, sie wäre ein Hühnerauge auf deiner Seele gewesen.«
»Erbstreitereien«, erklärte Mahler. »Üble Sache. Bei den Idioten, mit denen ich so verwandt bin, gibt es für mich wohl auch nur wenig Hoffnung.«
»Ich hatte nie viel Hoffnung für deine Person«, sagte der Hauptkommissar, während er sich setzte. »Aber erst mal nehme ich ein Bier, während du die Figuren aufstellst. Ich habe beschlossen, dich heute Abend mit einer neuen Eröffnung um die Ecke zu bringen.«
Mahlers Miene hellte sich auf.
»Wer zuletzt killt, killt am besten«, sagte er und schob das Brett gerade.
Die erste Partie dauerte eineinhalb Stunden, und sie endete mit einem Remis nach fast achtzig Zügen.
»Da, dieser frühe Läufer war stark«, sagte Mahler und zupfte sich am Bart. »Hätte mich fast überrascht.«
»Du hattest Glück«, sagte der Kommissar. »Ich betrachte mich als moralischen Sieger ... apropos Moral, was weißt du über Das Reine Leben?«
»Das Reine Leben?« Mahler sah ihn einige Sekunden lang verständnislos an. »Du meinst doch wohl nicht diese verfluchte Sekte?«
»Doch, ich denke schon«, sagte Van Veeteren.
Mahler überlegte.
»Warum fragst du? Aus dienstlichen Gründen, wie ich hoffe? Oder willst du da etwa eintreten?«
Van Veeteren gab keine Antwort.
»Widerlich«, sagte Mahler nach einer weiteren Denkpause. »Nicht, dass ich besonders viel darüber wüsste, aber meine Freunde würde ich mir nicht unter denen suchen. Ein gerissener Führer, zieht labile und ängstliche Menschen an ... macht sie zu Robotern und hat wahrscheinlich reichlich Dreck am Stecken. Obwohl sie sich nach außen hin gesetzestreu
geben und einen sanften Blick haben, wie die reinsten Unschuldsengel. Umso mehr nach dem, was passiert ist.«
»Hm«, sagte Van Veeteren. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.«
»Worum geht es?«
Der Hauptkommissar zuckte mit den Schultern.
»Weiß ich noch nicht. Vielleicht auch nur falscher Alarm. Auf jeden Fall werde ich für ein paar Tage rausfahren. Nach Sorbinowo.«
»Aha«, sagte Mahler. »Das kann im Augenblick ja sehr angenehm sein. Mit den vielen Seen da und so.«
»Ich reise aus beruflichen Gründen«, unterstrich Van Veeteren.
»Das glaube ich dir ja«, lachte Mahler. »Aber wenn du mal eine halbe Stunde Zeit haben solltest ... ich kenne einen guten Schreiberling dort.«
»Ach ja?«
»Er hat meine ersten Sammlungen besprochen. Positiv und klug. Scheint zu wissen, worum es in diesem verdammten Leben geht. Ich glaube, er ist immer noch Chefredakteur.«
Van Veeteren nickte.
»Wie heißt er? Falls ich einen klaren Kopf brauche.«
»Przebuda. Andrej Przebuda. Ist inzwischen sicher schon in den Siebzigern, aber er harrt bestimmt auf den Kulturbarrikaden aus, bis sie seine Asche in alle Winde verstreuen.«
Van Veeteren schrieb sich den Namen auf und leerte sein Glas.
»Nun ja«, sagte er. »Vielleicht wird es ganz schön, mal rauszukommen.«
»Bestimmt«, sagte Mahler. »Man sollte nur Beerdigungen vermeiden.«
»Ich werde versuchen, sie zu umgehen«, versprach Van Veeteren. »Schaffen wir noch eine?«
Mahler schaute auf die Uhr.
»Müssten wir eigentlich«, sagte er. »Übrigens, hast du nicht
bald Urlaub? Oder sind derartige Sozialleistungen bei euch inzwischen gestrichen worden?«
»Am ersten August«, erklärte der Hauptkommissar und drehte das Brett um. »Fahre mit einigen hoffnungsvollen Gefühlen nach Kreta.«
»Verdammt«, platzte Mahler heraus. »Was denn für hoffnungsvolle Gefühle?«
Aber der Hauptkommissar betrachtete nur mit unergründlicher Miene seine schwarze Dame.
»Obwohl, ich habe da so eine üble Vorahnung«, gestand er nach einer Weile.
»Auf Kreta bezogen?«
»Nein, auf Sorbinowo. Es scheint sich um ein verschwundenes Kind zu handeln, und solche Geschichten mag ich nicht.«
Mahler leerte sein Glas.
»Nein«, stimmte er zu. »Kinder sollten nicht verschwinden. Und erst recht nicht sterben. So lange unser Herrgott diese Details nicht im Griff hat, weigere ich mich, an ihn zu glauben.«
»Ganz meine Meinung«, sagte Van Veeteren. »Bitte schön, du bist am
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