Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Zug.«
III
19. – 23. Juli
7
Elgars Cellokonzert war hundert Meter vor dem Ortsschild zu Ende. Er schaltete den CD-Player ab und fuhr auf einen Parkplatz mit Touristen-Informationstafel und einem schönen Blick über die Landschaft unterhalb der Straße. Wühlte im Handschuhfach und fand das halb volle Päckchen West, an das er sich in der letzten halben Stunde erinnert hatte. Zündete sich eine Zigarette an und stieg aus dem Auto.
Er streckte seinen Rücken und machte ein paar vorsichtige Rumpfbeugen, während er seinen Blick über das Panorama wandern ließ. Die Seenkette – in erster Linie der Fluss Meusel, der sich drei- oder viermal zu lang gestreckten, dunklen Seen ausdehnte – verlief in südöstlicher Richtung durch ein flaches, bewirtschaftetes Tal. Der Ort Sorbinowo breitete sich zwischen Seen Nummer zwei und drei von seiner Perspektive aus gesehen und um diese herum aus. Er schätzte, dass es ein halbes Dutzend Brücken über das Wasser gab, bevor es zwischen bewaldeten Hängen gut fünf Kilometer entfernt aus seinem Blickfeld verschwand. Segelboote, Kanus und alle möglichen anderen Wasserfahrzeuge schaukelten in dem sanften Wind auf dem Wasser; direkt unterhalb von ihm standen ein paar Fischer und warfen ihre Leinen von einer alten gemauerten Brücke aus, und ein paar Kilometer weiter westlich johlten und plantschten Kinder fröhlich an einem angelegten Badeplatz.
Zweifellos ein Idyll, da musste er Hiller und Mahler Recht geben. Glitzernde, dunkle Wasseroberfläche. Reife Kornfelder. Vereinzelter Laubbaumbestand und verstreute Bebauung
in halb offener Landschaft. Alles zusammen von lautlosem Nadelwald umzäunt. Den Armeen des Schweigens.
Und eine vibrierende Sommerhitze, die das sich sanft kräuselnde Wasser selbst einem so zögerlichen Badegast wie dem Hauptkommissar Van Veeteren verlockend erscheinen ließ.
Ein Idyll, o ja, dachte er und machte einen tiefen Lungenzug. Aus sicherer Entfernung und bevor man anfing, an der äußeren Hülle zu kratzen, erschien das meiste schön und aufs Beste geordnet. Eine alte Weisheit, wohl bekannt.
Und während er dastand und den üblichen Signalen seines Rückgrats nach einer längeren Autofahrt lauschte, erwachte ein oft durchgekautes Gedankenwirrwarr in ihm – hinsichtlich Entfernung und Alter. Denn wenn er sich eines Tages (im August? Krantzes Antiquariat?) mit dem unbestreitbaren Recht der Jahre zurückzog ... wenn er ein für alle Mal aufhören würde mit seinem trostlosen Wühlen in den Müllhaufen des Daseins, dann war es ja wohl der Abstand – die erhabene Position kühler Distanz –, die einzunehmen und abzustecken er beabsichtigte. Die Perspektive des Betrachters. Sich endlich mit dem Äußeren zu begnügen – ob nun glitzernd oder nicht – und alle Zeichen nur als günstige zu deuten. Oder doch nicht alle. Eher das Muster ein Muster sein lassen. Die Welt und sich selbst in Ruhe lassen.
Nur dazusitzen und vor sich hin zu starren. Mit einem Bier und einem Schachbrett bei Yorrick’s oder Winterblatt’s. Der Lohn der Tugend nach einem ganzen Leben auf der Schattenseite?
Wer’s glaubt, wird selig, dachte er und trat die Zigarette aus. Zu viele Haken überall. Wohin man auch schaute. Wie auch immer, jetzt war es an der Zeit, den Deckel von dem sommerverschlafenen Sorbinowo zu lüften.
Ein Mädchen verschwunden?
Das Reine Leben?
Reiner Quatsch natürlich! dachte er und trank den letzten lauwarmen Rest des Mineralwassers, das viel zu lange auf dem Beifahrersitz gelegen und vor sich hin geschwappt hatte. Die
paranoiden Fantasien einer nervösen Urlaubsvertretung und sonst nichts ... aber wenn er nun den Fall auf ein paar Tage in die Länge ziehen und gleichzeitig seine Schuld bei dem Schmutzfinken Malijsen abzahlen konnte, dann hatte er eigentlich keinen größeren Grund, sich zu beklagen.
Es gab schlimmere Zeiten als rausgeschmissene Zeit – vielleicht war genau das die Grundlage für die Perspektive des Betrachters? Unter anderem zumindest.
Dachte der Hauptkommissar im Stillen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann kletterte er wieder in sein Auto und fuhr gemächlich in den Ort hinunter.
Es waren nur fünf Minuten Fußweg vom Polizeirevier am Kleinmarckt bis zum Wirtshaus Florian’s, und Van Veeteren war sofort klar, dass dieses nicht zu den üblichen Speisestätten von Polizeianwärter Kluuge gehörte. Weiße Tischdecken, diskrete Kellner im Pinguinanzug und eine Klimaanlage, die bis auf die offene Terrasse
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