Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
hinausblickten, dann mussten sie die massiven Schatten der Ruderboote unweigerlich sehen. Vorsichtig zog er die Ruderblätter durchs Wasser, stets darauf achtend, mit dem Fischer an seiner Seite im Takt zu bleiben. Rebekka saß ihnen gegenüber und war mucksmäuschenstill.
Plötzlich drang über das spiegelglatte Wasser ein tiefes Lachen zu ihnen herüber. Auch ohne Worte waren sich die »Piraten« über die Bedeutung dieses Lautes einig: Am Ende der Bucht musste ein Schiff liegen, in dem unbekümmerte Männer saßen. Ohei, der neben Rebekka saß, beugte sich ganz dicht zu David vor und deutete nach Süden. Er hatte von einem schmalen Pfad erzählt, der versteckt hinter Büschen und Bäumen zu der Treppe hinführte. Wenn sie dort an Land gingen, mussten sie zwar weiter laufen als von der Hauptanlegestelle, aber sie waren auch weniger leicht zu entdecken.
Der Kurs der beiden Ruderboote gabelte sich. Wang hielt mit seinen Männern auf Toyamas Yacht zu oder was immer dieser für ein Schiff benutzen mochte. Dessen Ankerplatz war jedenfalls vom Meer aus nicht zu sehen, weil er hinter einem ins Wasser ragenden Felsen lag. Wangs Auftrag war klar umrissen. Er sollte die Besatzung von Toyamas Schiff oder mögliche Wachen finden und unschädlich machen. Bei einem vereinbarten Zeichen hatte er sich zurückzuziehen. Bei der Taifun wollten sie sich wieder vereinen.
David hatte gegenüber den Fischern darauf bestanden, Gewalt nur im äußersten Notfall und so sparsam wie möglich einzusetzen. Ihm ging es einzig darum, den Kopf des Schwarzen Drachens abzuschlagen. Ohne sein Haupt würde das Monstrum vermutlich sowieso bald auseinander brechen oder sich selbst zerfleischen, wie es bei derartigen Geheimbünden keine Seltenheit war.
Nachdem Ohei sie zu dem Anlegeplatz gelotst hatte, kletterten die Männer sogleich aus dem Boot. Der Fischer half dem zwar noch rüstigen, aber doch nicht mehr ganz so gelenkigen Greis an Land. Sobald der Alte festen Boden unter den Füßen hatte, schüttelte er seinen Helfer verärgert ab.
David küsste noch einmal Rebekkas Lippen. Während der Wartezeit in der Nachbarbucht hatten sie ein langes Gespräch unter vier Augen geführt. Es war ein Abschied, ohne dass einer der beiden dieses Wort geduldet hätte. Aber jeder von ihnen wusste, wie gefährlich dieses Vorhaben war.
Während David den beiden Männern folgte, blieb Rebekka am felsigen Strand beim Boot zurück. Ihre Aufgabe war es nun, nach verdächtigen Bewegungen Ausschau zu halten und, wenn nötig, Alarm zu schlagen. Das von ihr erlernte Pfeifzeichen ahmte einen einheimischen Vogel nach, dessen Namen Rebekka noch nie gehört hatte. Momoko meinte, auf diese Weise würde ein Fehlalarm nicht gleich die ganze Bucht in Aufruhr versetzten.
Auf der Felsentreppe ließen David und Ohei ihren Gefährten zurück. Seine Bewaffnung bestand in einem Seemannsmesser, das bereits zahllose Fischbäuche aufgeschlitzt hatte, sowie in Wangs »bestem Stück«, einem preußischen Gewehr samt Bajonett, das er sich während des Boxeraufstandes von einem deutschen Infanteristen »ausgeliehen« hatte. Der aus der Mandschurei stammende Fischer fühlte sich außerordentlich geehrt die Furcht erregende Waffe seines Kapitäns zur Verteidigung des Tennos tragen zu dürfen.
Ohei besaß eine für einen fast Neunzigjährigen unerhörte Ausdauer. Gegen alle vereinbarten Vorsichtsmaßnahmen flüsterte er, das läge an seinem Berghäuschen in Iyo-Saijo. Momo hätte ihn schon längst verhungern lassen, wenn er nicht mehrmals die Woche den Weg zu ihrem Haus und wieder zurück absolvierte.
Das war eine glatte Lüge. David wusste das auch. Aber um sich langatmige und verräterische Diskussionen zu ersparen, raunte er nur: »In deinem Alter möchte ich auch gerne so gut beisammen sein. Wann sind wir denn endlich oben?«
»Es dauert nicht mehr lang.«
Die Treppe machte noch viermal eine Kehrtwende um einhundertachtzig Grad, dann betraten die beiden Männer einen schmalen Balkon. Vermutlich hatte man tagsüber von hier oben einen atemberaubenden Ausblick, wenn man durch die Zweige der Bäume spähte, die sich wie waghalsige Akrobaten an die steile Uferböschung klammerten, von denen man jetzt aber nur dunkle Schatten sah.
David und Ohei tauschten die Plätze. Jetzt ging der Jüngere voran. In der Rechten hielt David sein Langschwert, jederzeit bereit es auch zu gebrauchen, aber sein sechster Sinn blieb ruhig. Toyama fühlte sich entweder so sicher, dass es hier draußen keine
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