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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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    Tage wie diese sollte es wirklich nicht geben. Jeff tunkte das letzte Stück Brot in die Schale, wartete, bis es ganz mit Milch voll gesogen war, und schob es sich in den Mund. Wieder eine »letzte Mahlzeit«. Wie viele davon hatte er in den vergangenen zwei Jahren nun schon zu sich genommen!
    Er blickte trübe durch das kleine Fenster auf die Straße hinaus. Der Spätsommer protzte da draußen mit Licht und Farben, als wolle er sich über den ernsten Jungen im Gasthaus lustig machen. Aber Jeff dachte gar nicht daran, sich von diesem eitlen Gehabe anstecken zu lassen. Gute Laune war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Er wollte leiden. Gründe dafür gab es jedenfalls genug.
    Bei Sonnenaufgang hatte George ihn im Stall aufgesucht und ihn unsanft wachgerüttelt. Jeff war zunächst wie benommen. Er streckte sich wie ein Kater und rieb sich gähnend den Schlaf aus den Augen. Dann erst bemerkte er das Unbehagen auf dem versteinerten Gesicht des alten Mannes. Ehe der Wirt von Ravens Court noch den Mund öffnete, wusste Jeff bereits, was ihn erwartete. Zu oft schon hatte er Worte wie diese gehört.
    Er könne nicht länger im Gasthaus arbeiten, brummte der Alte missgelaunt. Ethelbert, sein Sohn, werde in Zukunft die Aufgaben des Hausknechtes übernehmen. Dessen angeschlagene Gesundheit mache ihm die Rückkehr zur Navy unmöglich. Und Ravens Court werfe nicht genug ab, um noch mehr Mäuler zu stopfen. »Es tut mir Leid«, schloss George. »Blut ist eben dicker als Wasser. Nimm’s nicht persönlich, Junge.«
    Jeff schlürfte den letzten Rest der Milch aus der Schale. Das warme Frühstück war Georges Abschiedsgeschenk, der Preis, mit dem er sein Gewissen freikaufte. Jeff seufzte. Es war Zeit, Tunbridge Wells den Rücken zu kehren. Das Unglück schien ohnehin auf der Stadt zu lasten wie ein dunkler Fluch.
    Die besseren Tage des Badeortes südöstlich von London waren jedenfalls schon lange vorbei. Diese Einsicht gehörte zu Jeffs neuesten Errungenschaften. Zu Beginn des Sommers hatte er sich noch der trügerischen Hoffnung hingegeben, hier seinen Sorgen auf Dauer zu entkommen. Oder wenigstens für eine längere Zeit. Die wohlhabenden Gäste aus der Hauptstadt versprachen ein gesichertes Einkommen, entweder durch lukrative Hilfsarbeiten oder mittels gelegentlicher Diebereien. Jeff war kein Dieb aus Überzeugung, aber seit er sich als Vollwaise durchs Leben schlug, hatte er Sitte und Anstand doch gelegentlich seinem Hunger geopfert – mit zunehmendem Geschick.
    Ein letztes Mal ließ er den Blick durch den leeren Gastraum schweifen. Sonntags um neun, noch vor Pater Garricks Predigt, war hier nie etwas los. Allerdings verlief sich auch sonst immer seltener jemand in das Gasthaus unweit der Flanierpromenade von Tunbridge Wells. George war oben bei seinem Sohn. Vor gut drei Wochen hatte die Influenza Ethelbert aufs Krankenlager geworfen. Inzwischen war der junge Seemann wieder auf dem Wege der Besserung. Sein Sieg über das Fieber kam einem Wunder gleich. Anderen in Tunbridge Wells war es nicht so gut ergangen. Im September hatte die heimtückische Krankheit schon vierzehn Einwohner des Ortes dahingerafft und etliche mochten noch folgen. Nein, Jeffs Zukunft lag ganz bestimmt nicht hier. Zum Sterben fühlte er sich noch zu jung.
    Er erhob sich von seinem Stuhl. Der alte George Arnes hielt nicht viel von rührseligen Abschiedsszenen. Wenn er wieder herunterkam, würde Jeff schon fort sein. Möglicherweise nicht einmal mehr in der Stadt. Er griff nach dem Bündel, das seine wenigen Habseligkeiten barg, packte seinen Wanderstab und ging zur Tür. Als er die Hand nach dem Griff ausstreckte, schien dieser förmlich vor ihm zurückzuschrecken.
    Jeffs Augen waren noch an das schwache Licht der Gaststube gewöhnt. Doch nun blickte er unvermittelt auf ein sonnengleißendes Rechteck, in dem eine dunkle Silhouette aufragte. Entsetzt taumelte er zurück. Dieser Fremde – wer immer es auch sein mochte – hatte ihm einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Dabei hätte Jeff nicht einmal sagen können, was ihn an dieser Gestalt im Gegenlicht so verängstigte. Zugegeben, sie war riesig, wohl mindestens sechseinhalb Fuß hoch, und außerdem auch deutlich breiter als jeder Gast, den Jeff bisher im Wirtshaus gesehen hatte. Aber das allein war es nicht. Diesem Schemen haftete noch etwas anderes an, das den Jungen frösteln ließ, etwas… Unerklärliches.
    »Warum starrst du mich so an,

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