Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
doch ehe sie ihm antworten konnte, hatte David schon das Wort ergriffen.
»Ich überbringe einen Gruß von einem Ihrer alten Küchenjungen, Double-O. Jeff Fenton. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Es gehört zu dem geheimnisvollen Wesen alter Leute, die Ereignisse ihrer Jugendtage wie kostbare Schätze in den Kammern ihrer Erinnerungen aufzubewahren, während sie Begebenheiten jüngeren Datums oft wie billigen Tand mit Eile herauskehren. So war es auch bei Ohei Ozaki, dessen frühere Identität jetzt das Pseudonym Ryutaro Kawamura verbarg. Seine dunklen Augen begannen zu glänzen wie polierte Obsidiane in einem faltigen, blassgelben Seidenbett.
»Wo-Woher kennen Sie diesen Namen?«, stotterte er sichtlich erregt. Momoko eilte herzu, um ihn zu stützen, aber er wehrte sie empört ab.
»Der Küchenjunge Jeff Fenton war mein Vater.«
»War? Ist er im Krieg gefallen?«
»Mein Vater wurde ermordet. Teruzo Toyama hat ihn ans Messer geliefert.«
Jetzt wankte Ohei doch bedrohlich. Momoko überwandt geschickt seine in die Luft schlagenden Hände und stützte ihn. »Ich glaube, es ist besser, wir gehen hinein«, sagte sie streng.
Bald hockten Ohei, seine Enkelin (die er ausnahmslos Momo nannte), Rebekka und David auf einer Matte aus Reisstroh. Momoko hatte Tee zubereitet, der in kleinen Schälchen vor ihnen dampfte. Inzwischen war es zu einer gründlichen Vorstellung der Gäste gekommen. David hatte daraufhin einige Meilensteine aus seiner und seines Vaters Lebensgeschichte beleuchtet, um Ohei Ozaki das wahre Gesicht seines Herrn zu zeigen.
Aber der alte Mann war erstaunlich stur. »Was Sie da behaupten, Murray-san, ist ungeheuerlich! Ich habe Toyama seit meinem zwanzigsten Lebensjahr gedient – fünfzig Jahre lang! Natürlich weiß ich, dass er der Kopf der Amur-Gesellschaft ist, aber was Sie da über diesen Kreis der Dämmerung sagen…« Einmal mehr schüttelte er den Kopf.
David war der Verzweiflung nahe. Natürlich wusste er von der unerschütterlichen Treue der Japaner gegenüber ihren Dienstherren, ein Verhalten, das noch in den alten Feudalstrukturen des Landes wurzelte. Aber allmählich fürchtete er, der Alte könne überhaupt nicht auf die Gabe der Wahrheitsfindung reagieren. David holte tief Luft und legte noch einmal alle Überzeugungskraft in seine Stimme.
»Hören Sie mich bitte an, ehrenwerter Ozaki-san. Die Gesellschaft Schwarzer Drache wurde erst zu Beginn dieses Jahrhunderts gegründet, um Japan für seinen Krieg gegen Russland vorzubereiten. Ist Ihnen nie die Frage in den Sinn gekommen, weshalb Toyama 1882 mit Ihnen nach Europa reiste?«
»Ich habe mich nicht in die Angelegenheiten meines Herrn eingemischt. Niemals.«
»Aber jetzt wissen Sie, was sich damals in The Weald House zugetragen hat. Toyama ist zwar die graue Eminenz hinter zahllosen Verbrechen, aber der Jahrhundertplan ist niederträchtiger als alle infamen Verschwörungen der Vergangenheit zusammen. Und Ihr ›ehrenwerter Toyama- san‹ spielt eine führende Rolle in diesem Frevel an Gott und der Menschheit. Haben Sie sich denn nie gefragt, warum Toyama zwölfmal langsamer altert als jeder normale Mensch?«
»Es ist fast so, als hätte er alle Zeit gestohlen, um sie nur für sich zu haben«, hauchte Momoko ungläubig.
Der Greis sagte gar nichts. Er hockte nur reglos auf seinen Knien und wirkte dadurch noch winziger und zerbrechlicher, als er ohnehin schon war. Man hätte glauben können, er wäre nun endgültig eingetrocknet. David fühlte sich müde, richtiggehend ausgelaugt. Immer wenn er seine besonderen Fähigkeiten einsetzte, kostete ihn das viel Kraft. War etwa alles vergeblich gewesen?
Mit einem Mal kehrte das Leben in den alten Mann zurück. Alle sahen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Als er endlich zu sprechen begann, klang seine Stimme brüchig wie altes Pergament: »Ich weiß zwar nicht, wie Sie das geschafft haben, Murray-san, aber ich werde Ihnen helfen diesen Teufel zu finden.« Er ließ den Kopf hängen, während er ihn zugleich schüttelte: »Ich hätte niemals geglaubt, einmal meinen Herrn zu verraten. Und er ganz gewiss auch nicht.«
Am nächsten Morgen ging das Ehepaar Murray in Begleitung von Ohei Ozaki und seiner Enkelin an Bord eines Fischerbootes, das David mit seiner nun schon bekannten Überredungskunst und einem Bündel Geldscheinen einem Seebären abgetrotzt hatte. Genauer gesagt waren die vier nur Passagiere des verrosteten kleinen Kutters, der den bewegenden Namen Taifun trug. Kapitän Wang
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