Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
düsteren Gedanken schon aus dem Kopf blasen. Der dunkle Schatten war nur für einen winzigen Augenblick am Kirchenfußboden erschienen. Und auch nur dort. Im Portal hatte niemand gestanden, um das Sonnenlicht am Eindringen zu hindern. Jeff schob die unangenehme Erinnerung beiseite. Warum sich mit dem trügerischen Spiel des Lichts aufhalten, wenn es doch viel handfestere Dinge im Leben gab, die seiner Aufmerksamkeit bedurften? Welche Personen mochten bei diesem Empfang wohl geladen sein, dass schon ein einfacher Küchenjunge wie ein Fürst entlohnt wurde?
Ein Florin, zwei Schillinge! Dafür bekam man gleich zwei gebundene Bücher wie die Railway Library, diese aufregende Geschichtensammlung von George Routledge. Jeff war ein begeisterter Leser. Seit er sich der Obhut des Königlichen Waisenhauses von Waltham Abbey entzogen hatte, war ihm dieses Vergnügen jedoch nur selten vergönnt gewesen. So würde er wohl auch dieses Mal seinen Lohn in Brot und anderem Lebensnotwendigem anlegen. Wenn er das Geld erst hatte.
The Weald House lag am Ende einer drei Meilen langen Zufahrt, die von der Straße nach London abging. Es war mitten in das dicht bewaldete Gebiet eingebettet, das man gemeinhin als The Weald of Kent bezeichnete. Das plötzliche Auftauchen des Anwesens zwischen den Laubbäumen hatte Jeff regelrecht überrascht. Er blickte zum Himmel empor. Die Sonne stand noch fast im Zenit: Er würde pünktlich sein.
Das graue Landhaus lag wie ein schlafender Drache im Wald. Es bestand größtenteils aus grob bearbeiteten Steinblöcken; nur im drei Stockwerke hohen Mittelteil konnte Jeff auch rötliches Fachwerk entdecken. Er lief direkt auf die Giebelseite dieses zentralen Baus zu, der weit aus den beiden flachen Seitenflügeln herausragte. Alle Gebäudeteile waren mit Spitzdächern versehen, auf denen eine nicht näher zu bezeichnende Anzahl Schornsteine thronte – offenbar verfügte hier jedes Zimmer über einen eigenen Kamin. Wie weit sich der Bau hinter dieser Vorderansicht noch in die Tiefe erstreckte, konnte Jeff von seiner augenblicklichen Position aus nicht erkennen. Dafür entdeckte er auf der linken Seite, leicht versteckt unter den Bäumen, eine Hand voll Wirtschaftsgebäude, darunter auch die Stallungen. Es standen sechs oder acht Kutschen davor. Offenbar war die Mehrzahl der Gäste schon eingetroffen.
Jeff überquerte einen runden, mit Kies bestreuten Vorplatz und stieg die drei flachen Stufen zum überdachten Haupteingang empor. Er wollte gerade den Messingklopfer betätigen, als sich die Tür schon öffnete.
Diesmal wurde er weder geblendet noch von undurchdringlichen Schatten irritiert. Vor ihm stand ein molliges Dienstmädchen mit roten Haaren und einem schüchternen Lächeln auf dem Gesicht.
»Guten Tag«, sagte Jeff höflich. »Mein Name ist Jeff Fenton und ich komme, um hier zu arbeiten.«
Das Mädchen kicherte.
»Bei wem muss ich mich melden?«, fasste Jeff nach. Seine Stimme klang nun schon etwas fordernder. Er konnte kichernde Mädchen nicht ausstehen.
»Ich bin Dorothy«, gluckste die sommersprossige Magd, die etwa in Jeffs Alter sein musste. »Wer hat dich denn eingestellt, Jeff?«
»Die rechte Hand deines Herrn.«
»Du meinst…?« Die Fröhlichkeit verflüchtigte sich jäh aus Dorothys pausbackigem Gesicht.
Nicht ganz unzufrieden über diese Entwicklung, bestätigte Jeff flüsternd: »Negromanus. Ein dunkler Geselle, nicht wahr? Er hat mich für Lord Belials heutigen Empfang engagiert.«
»Und was sollst du hier tun?«
»Eurem Küchenchef assistieren.«
Dorothy musste erneut kichern. Jeff verdrehte die Augen. Als die Magd ihre Fröhlichkeit wieder einigermaßen im Griff hatte, erwiderte sie: »Ach, du bist der Aushilfsküchenjunge für die kranke Lissy. Das hättest du ja auch gleich sagen können.«
Jeff stöhnte innerlich. Eine Aushilfe für ein Mädchen! Vermutlich noch so ein gackerndes Huhn, das sich nun im Fieber wälzte. Er verkniff sich eine passende Bemerkung und antwortete betont gelassen: »Wo muss ich mich also melden?«
»Geh links ums Haus herum. Da findest du einen Dienstboteneingang. Den nimmst du und fragst dann den Nächstbesten.«
»Und warum kann ich nicht wie du den Haupteingang benutzen?«
»Der Haupteingang ist nur für die Herrschaften. Und natürlich für das Stammpersonal! Hilfskräfte müssen hinten rein.«
Dorothy ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und marschierte mit erhobener Nasenspitze in Richtung Stallungen an dem neuen
Weitere Kostenlose Bücher