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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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aus konnte er seine Herde von Gläubigen gut überschauen. Er zog einige Blätter Papier aus seiner Robe, breitete sie auf dem Pult aus und schürzte die Lippen. Sein Blick wanderte über die Gemeinde. Hin und wieder runzelte er unwillig die Stirn, offenbar wenn er ein bestimmtes Gesicht nicht finden konnte. Jeff vermutete, dass der Gottesmann im Geiste eine Anwesenheitsliste führte, die er bei dieser Gelegenheit auf den neuesten Stand brachte. Endlich kam der Pater zum eigentlichen Zweck der Zusammenkunft: der Erbauung seiner Gemeinde.
    Die Predigt ruhte auf einigen Grundpfeilern, die fast alle Ansprachen des Geistlichen trugen. Pater Garrick verfügte über ein bewundernswertes Geschick die gleichen Gedanken in immer neue Worte zu kleiden. Ebenso bunt fielen auch die Reaktionen seiner Zuhörer aus: Manche waren von Herzen gerührt, einige zu Tode gelangweilt und andere zutiefst erschüttert. Noch heute erinnerte sich Jeff an jedes Wort der ersten dieser Predigten, der er am zweiten Sonntag nach seiner Ankunft in Tunbridge Wells gelauscht hatte. In den Tagen davor hatte er sich zwei-, dreimal mit kleineren Diebereien über Wasser gehalten, aber dem setzte Pater Garrick mit seinen anschaulichen Worten vorerst ein Ende. Jeffs Frömmigkeit ging zwar nicht so weit, dass er dem Pater seine Sünden beichten mochte, aber in einer persönlichen Aussprache mit Gott versuchte er dennoch reinen Tisch zu machen.
    Anschließend erhielt er die Stellung als Hausbursche in Ravens Court, für Jeff eindeutig eine Antwort des Himmels. Es folgten sonnige Wochen ohne Hunger, mit einem festen Dach über dem Kopf, auch wenn es nur das eines Pferdestalls war. Seit dem Tod seines Vaters war Jeff nie mehr so lange an einem Ort geblieben wie hier in Tunbridge Wells. Er hatte sich geborgen gefühlt in diesem etwas heruntergekommenen Gasthof von George Arnes und seiner Frau Amy.
    Jeffs Mutter war schon im Kindbett gestorben. Sein Vater Adam, ein Silberschmied, hatte sich redlich um seine Erziehung bemüht, ihn später regelmäßig in die Schule geschickt, einen rundherum glücklichen Jungen aus ihm gemacht. Doch als der Vater dann vor zwei Jahren an einer Lungenentzündung starb, stellte sich heraus, dass er mit Geld weit weniger gut hatte umgehen können als mit Silber und Kindern. Von einem Tag auf den anderen wurde aus Jeff eine mittellose Waise. Er sollte in ein Heim gesteckt werden. Doch vorher hatte er sich aus dem Staub gemacht.
    Jeff nahm seine Gedanken an die Kandare und versuchte sich wieder auf Pater Garricks Vortrag zu konzentrieren. Was der Geistliche da, gleichsam aus göttlicher Perspektive, auf seine Schäflein herniederprasseln ließ, glich einem Hagelschauer düsterer Visionen. »Und der Herr sagt: ›Hernach werde ich nicht mehr viel mit euch reden, denn es kommet der Prinz der Welt.‹ So steht es im Evangelium des Johannes geschrieben, Kapitel vierzehn, Vers dreißig. Wo werdet ihr dann stehen, wenn jener kommt, vor dem der Herr Jesus uns da warnt?« Der Seelenhirt ließ die Frage hinreichend lang in das Bewusstsein seiner Gemeinde einsickern, während sein Blick über eingeschüchterte Gesichter streifte. »Glaubt nicht, ihr könntet ohne Beistand des Herrn jenem Prinzen widerstehen, der so viele Namen hat: Beelzebub, Luzifer, Satan, Teufel – unmöglich sie alle aufzuzählen! Nehmt euch die Worte des heiligen Paulus zu Herzen: ›Und euch hat er lebendig gemacht, die ihr tot wart in euren Verfehlungen und Sünden; in welchen ihr einst wandeltet gemäß dem Lauf dieser Welt, gemäß dem Prinzen der Gewalt der Luft, dem Geist, der nun wirket in den Kindern des Ungehorsams.‹«
    Auf Pater Garricks Stirn standen Schweißtropfen. Er atmete schwer. Ließ seine Worte abermals wirken. Oder war es Erschöpfung, die ihn zum Innehalten zwang? Derart hat er sich noch nie verausgabt, dachte Jeff und beobachtete aus seiner Deckung, wie der Geistliche seine Predigt fortsetzte.
    »Anscheinend gibt es einige in Tunbridge Wells – oder soll ich sagen, in dessen näherem Umkreis? –, die sich dieser Hilfe nicht versichern wollen. Nie besuchen sie eine unserer Andachten. Sie scheuen dieses Haus wie der Teufel das Weihwasser. Was Wunder, wenn der fromme Mann sich da zu fragen beginnt, welch unheiligem Treiben diese verirrten Seelen wohl frönen.«
    Pater Garrick stockte. Jeff konnte deutlich sehen, wie er schwankte, sich mit knöchernen Fingern an der Brüstung der Kanzel festklammerte. Ein Murmeln ging durch die versammelte

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