Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
seufzte. »Aber jetzt lässt sich das wohl nicht mehr leugnen.«
»Wir sollten so schnell wie möglich aus Rom verschwinden.«
David horchte auf. »Hast du eben wir gesagt?«
Lorenzo lächelte gequält. »Du glaubst doch nicht, ich wäre hier noch sicher? Nein, mein Lieber, jetzt hast du mich am Hals. Ich komme mit dir nach New York. Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich fast annehmen, du hättest mir mein Heim mit Absicht unter dem Hintern weggesprengt.«
Die Via Appia Antica war die »Königin der Straßen«. Und das schon seit zweitausendzweihundertsiebzig Jahren. Schnurgerade – zumindest beinahe – erstreckte sie sich über fünfhundert Kilometer weit von Rom bis nach Brindisi, dem antiken »Tor zum Orient«. David und Lorenzo bezogen fast noch an ihrem Ausgangspunkt Quartier, kurz hinter dem zweiten Meilenstein, etwa auf der Höhe des Romulusmausoleums.
In der Villa eines Schuhfabrikanten aus Siena, der zu Lorenzos wenigen noch verbliebenen Freunden aus der Vorkriegszeit gehörte, lebten die beiden Ausgebombten für kurze Zeit in ungewohnt luxuriöser Umgebung. David wurde schnell wieder vertraut mit dem nur allzu menschlichen »Heiligen«. Der Tag nach dem Abenteuer in den Tiefen unter San Clemente war mit hektischer Betriebsamkeit ausgefüllt gewesen, der den beiden Freunden kaum Gelegenheit zum Schwelgen in der Vergangenheit gegeben hatte. Die Verabredungen mit dem jüdischen Goldschmied Davide und – gewissermaßen als Notfallplan – mit einigen anderen Informanten mussten getroffen und noch etliche Erkundigungen eingezogen werden. Aber nun waren sie zur Untätigkeit gezwungen.
David gab sich nicht der Illusion hin, Belials Häscher lange täuschen zu können. Ohne Frage würden sie nach Abrücken der Feuerwehr zu dem zerstörten Pfarrhaus zurückkehren und nicht eher ruhen, bis sie den verborgenen Fluchtweg entdeckt hätten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden dürften die Suchtrupps des Schattenlords wie ein Bienenschwarm über Rom herfallen.
»Ich muss mit einigen Personen telefonieren, die mir noch einen Gefallen schulden«, hatte Lorenzo seinen Plan zur Rettung der wahrhaft brenzligen Situation erklärt. »Mit ihrer Hilfe werden wir das Gerücht in die Welt setzen, du seist aus der Stadt geflohen. Sobald die Fragerei nach dem weißhaarigen Ausländer aufhört, können wir uns wieder aus unserem Schlupfwinkel wagen. Aber bis dahin ist absolute Funkstille angesagt.«
In den kommenden Tagen verbrachten die beiden Freunde in mondäner Umgebung viel Zeit damit, sich die jeweiligen Erlebnisse der vergangenen Jahre zu erzählen. Zum ersten Mal berichtete David auch in aller Ausführlichkeit von den Tagen des Jahres 1939, als ihm Rebekka entrissen worden war, und der ehemalige Mönch trauerte um sie wie um eine verlorene Schwester. Um David aufzumuntern, erzählte er von seinen vielen Kontakten zu Insidern des Vatikans. So habe er erfahren, was bereits der vatikanische Liegenschaftsbeamte Ugo Buitoni angedeutet hatte: Franz von Papen befinde sich tatsächlich in der Obhut eines hohen kirchlichen Würdenträgers in Italien. Er, Lorenzo, werde David helfen, seinen alten Widersacher zu finden, und wenn er den Papst persönlich einschalten müsse.
Noch hatte David allerdings die misslungene Feuerprobe nicht ganz abgehakt. Immerhin ging es ja um die Frage, wie Lord Belial besiegt werden könnte.
»Was denkst du, Lorenzo, weshalb konnten die Flammen dem Ring nichts anhaben?«
»Möglicherweise bedarf es dazu eines besonderen Feuers, einer Energie, wie sie vielleicht bei der Entstehung des Universums existiert hat.«
»Also, wenn mir das Mut machen soll…« Wo sollte er nur ein solches Feuer hernehmen? Er musste sich wohl mit der unangenehmen Wahrheit abfinden, dass es keinen einfachen Weg gab, sich des Kreises der Dämmerung zu entledigen.
Anfang Oktober 1958 nahmen die beiden Freunde wieder ihre Nachforschungen auf. Seit einigen Tagen hatten Lorenzos Informanten nichts mehr über anonyme Frager berichtet, die mit Bündeln von Geldscheinen herumwedelten und sich nach einem »weißhaarigen Engländer« erkundigten. Diese Ruhe mochte natürlich trügerisch sein und deshalb wagten sich die beiden Freunde nur in wechselnden Verkleidungen ans Tageslicht. Je mehr Zeit allerdings verstrich, desto mutiger wurden sie. Bald ging David wieder ganz in jener Art von Ermittlungen auf, die ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen waren. Ein erfreulicher Unterschied: Nun kämpfte ein
Weitere Kostenlose Bücher