Der kuerzeste Tag des Jahres
einer großen, wunderschönen Stadt in Deutschland. Das hatte Elkanah ihm verraten, als er vor einigen Jahren dort aufgetreten war. Samuel hatte München im Lexikon nachgeschlagen und dabei beinahe erwartet, auf ein Foto von Elias zu stoßen, wie er als Kind in den Straßen spielte. Aber es hatte nur einen Stadtplan gegeben und jede Menge Bevölkerungsstatistiken.
Hannah hätte ihm etwas verraten können, sie musste Bescheid wissen. Aber Hannah war genau wie ihr Vater. Sie hielt die Vergangenheit so verschlossen wie Geheimunterlagen in einem Safe. Selbst über ihre Mutter sprach sie kaum. Elias ’ Frau war an Brustkrebs gestorben, als Hannah achtzehn Jahre alt war.
Sogar Theodora, die sonst alles wusste, wusste wenig über Elias. Das wollte sie allerdings auch nicht.
»Es ist fünfzig Jahre her, Samuel«, sagte sie, wenn er sie darauf ansprach. »Das ist längst vorbei.«
So gern Theodora Notizen machte, so sehr hasste sie Geschichte. Wenn auf dem Fernsehbildschirm Flaggen mit Hakenkreuzen auftauchten, wandte sie den Blick ab und begann, über etwas anderes zu reden.
Elias mochte Samuel am liebsten, doch Samuel wusste das nicht. Samuel fühlte sich bedeutungslos. Er fühlte sich uninteressant. Er fühlte sich, als wäre irgendetwas an ihm unwirklich, anders als bei jenen Menschen, mit denen er zusammenlebte, anders als bei seinen Mitschülern. Er wusste nicht, welche Meinung er zu bestimmten Themen haben, wie er sich verhalten sollte. Wenn jemand etwas sagte, das er nicht verstand, schaute er Hilfe suchend zu Theodora. Ständig schossen seine Blicke herum, auf der Suche nach den Gesichtern anderer Menschen. Er kam sich vor wie ein neugeborenes, flaumgefiedertes Entchen, das auf schmutzigem Wasser herumschwappte.
Aber Samuel fühlte sich zu seinem Großvater hingezogen, zur hintergründigen Traurigkeit des alten Mannes. Diese düstere historische Tragödie im Leben von Elias, nur selten von irgendwem erwähnt, und niemals von Elias, umgab sie bei jeder Begegnung, bei jeder ihrer Unterhaltungen wie ein Geist. Noch verstärkt durch den gemeinsamen Geburtstag, kettete sie die beiden mit einer verzweifelten Liebe aneinander, als versteckte jeder im eigenen Herzen das Geheimnis um die Existenz des anderen.
Kapitel 5
Malaria
Und doch gab es etwas an Samuel, das anders war, etwas, das ihn außergewöhnlich machte, auch wenn weder er selbst noch irgendwer sonst dies wusste. Es war keine besondere Gabe, wie eine schöne Singstimme oder die Fähigkeit, besondere Bauwerke zu errichten, aber es war etwas, das Theodora nicht hatte.
Samuel hatte Malaria.
Er hatte sich mit Malaria angesteckt, als er siebzehn Monate alt war, aber das wusste niemand. Und es war so geschehen:
Samuel, Hannah und Elkanah waren nach Papua Neuguinea in den Urlaub gefahren. Eine alte Freundin Elkanahs lebte dort in einem Bergdorf. Ihr Name war Naomi, und Elkanah wollte sie besuchen.
Elias hatte die gesundheitlichen Risiken erwähnt, sich dagegen ausgesprochen und ihnen hartnäckig nahegelegt, lieber nach Neuseeland zu fahren. Bevor Elias in Rente gegangen war, hatte er als Arzt in Afrika, in Polynesien und in Vietnam gearbeitet, er wusste also sehr gut, wovon er sprach, wenn es um Tropenkrankheiten ging.
Aber Elkanah wollte nicht hören. »Wir nehmen alle empfohlenen Tabletten, uns wird nichts passieren, hab dich nicht so«, sagte er, und weg waren sie. Theodora begleitete sie nicht, weil Pearl sie zu dieser Zeit hatte – und Pearl hätte einer Reise nach Neuguinea in den Sommermonaten sowieso niemals zugestimmt.
Wie es kam, sollten sowohl Elias als auch Pearl recht behalten. Denn obwohl alle die vorgeschriebenen Medikamente nahmen, erkrankten sie, fast erwartungsgemäß, an Malaria. Elkanah und Hannah wurden sehr schnell sehr krank und mussten ins Bett, fiebernd und geschwächt. Ab und zu schaute ein deutscher Arzt herein, verabreichte ihnen Chinin und legte dabei, wie Naomi fand, eine unnötig düstere Haltung an den Tag.
»Malaria ist doch heutzutage kein Risiko mehr«, ließ sie den Arzt leichthin wissen. »Typhus – das wäre etwas, um das man sich Sorgen machen müsste.«
»Jedes Jahr sterben eine Millionen Menschen an Malaria«, gab der Arzt unbeeindruckt zurück. »Das müssen Sie verstehen.«
Nicht dass ihre Unterhaltung besonders stolperfrei verlaufen wäre. Der Arzt benutzte Englisch nur dann, wenn er sich dazu genötigt sah. In ihren wacheren Momenten versuchte Hannah, auf Jiddisch mit ihm zu reden, das sie bei Elias gelernt
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