Der kuerzeste Tag des Jahres
während der von Hannah unerschöpflich schien. Immerzu traf sie Leute, lieh jedem ein aufmerksames Ohr, lächelte, bot einen Schluck Mineralwasser an.
Randolph Butcher lernte sie allerdings nicht über ihre Arbeit kennen. Sie stieß im Supermarkt auf ihn, eines Donnerstagabends, als Elkanah unterwegs war, um Don Giovanni zu singen. Theodora und Samuel waren bei ihr. Das Einkaufszentrum war überfüllt und sie drehten bereits die vierte Runde um das Parkgelände.
»Da ist einer frei, Hannah«, zeigte Theodora, die einen Grundriss des Parkplatzes in ihr Notizbuch malte.
»Würdest du bitte dieses Heft weglegen?« Hannah war genervt und wünschte sich, nie hierhergekommen zu sein. »Ich kann das wirklich nicht ausstehen!«
Theodora klappte das Heft zu und schob es unter den Beifahrersitz. Hannah war schwierig, wenn Elkanah nicht da war.
Gemeinsam mit Samuel folgte sie Hannah die abfallenden Rampen hinunter in die Wärme des Einkaufszentrums. Dann folgten sie ihr durch die Gänge des Supermarkts. Samuel beobachtete, wie Theodora auf die günstigsten Preise hinwies, auf besonders leckere Sachen, auf die längsten Haltbarkeitsdaten. Samuel bewunderte sie so sehr. Theodora war eine Meisterin.
Auf Randolph Butcher stießen sie im Kühlraum, wo sie nach Joghurt suchten. Da er ebenfalls nach Joghurt suchte, hatten sie etwas gemeinsam, weshalb Theodora und er in ein Gespräch über Füllmengen und Geschmacksrichtungen gerieten, über Zusammensetzungen und Fettgehalte. Es war, befand Theodora später, nicht der beste Ort, um neue Freundschaften zu schließen. Jetzt fiel ihr, wann immer sie an Randolph dachte, die frostige Luft des Kühlraums ein, der ranzig-süßliche Geruch abgelaufener Milchprodukte, deren Preise mit dickem schwarzem Textmarker nach unten korrigiert worden waren.
Schließlich klinkte Hannah sich ein, die sich fragte, was ihre Tochter mit einem Mann mittleren Alters so intensiv diskutieren mochte – wobei Randolph Butcher noch nicht wirklich mittleren Alters war, aber er hatte bereits beinahe eine Vollglatze. Die hatte er jedoch schon (erklärte er später Theodora, die sich die Frage nicht verkneifen konnte), seit er einundzwanzig war.
Randolph Butcher und Hannah unterhielten sich auf dem gesamten Weg aus dem Kühlraum hinaus, an den Müsliregalen entlang, an den Süßwaren und Erfrischungsgetränken vorbei bis hinter die Kassen. Dann bot Hannah ihm an, ihn nach Hause zu fahren, was Theodora für unverhältnismäßig großzügig hielt. Wie sollten sie zwei große Einkäufe plus einen weiteren Mitfahrer im Auto unterbringen? Aber bis sie bei den Parkplätzen ankamen, hatte es zu regnen begonnen, und Randolph Butchers Glatze wurde nass.
Während der Fahrt unterzog Theodora Randolph Butcher einer wissenschaftlichen Einschätzung, und sie zeichnete ihn in ihr Notizbuch, wie sie es häufig tat, wenn sie jemanden neu kennenlernte. Er erzählte Hannah, dass er eine Verwaltungsstelle bei der Polizei innehabe. Theodora schrieb das auf.
»Haben Sie Kinder?«, fragte ihn Theodora. »Ich mache eine Umfrage.«
»Nein, keine Kinder«, gab Randolph gut gelaunt zurück, und warum auch nicht? »Nur ein paar Topfpflanzen.«
Theodora trug eine sorgfältig ovale Null in ihre Keine-Kinder-Spalte ein. Die Topfpflanzen erwähnte sie nicht.
»Sind Sie verheiratet?«, fuhr Theodora fort.
»Theo!«, rief Hannah sie wenig überzeugend zur Ordnung.
»Nein, und du?«, fragte Randolph Butcher zurück. Das sollte schnodderig klingen.
Samuel wandte sein Gesicht dem Fenster und der Dunkelheit dahinter zu. Er konnte schnodderige Erwachsene nicht ausstehen – ein Erwachsener sollte sich würdevoll und umsichtig verhalten, wie Hannah und sein Großvater.
Weder Theodora noch Samuel hätten vermutet, dass sie Randolph Butcher, nachdem sie ihn mit all seinen goldenen, ordentlich verschnürten Plastiktaschen nahe des Stadtzentrums vor einem flachen blaugrauen Wohnblock abgesetzt hatten, jemals wiedersehen würden. Er und Hannah hatten keine Telefonnummern ausgetauscht oder dergleichen. Aber irgendwie fanden sie trotzdem zusammen.
Wenige Tage später hörte Theodora, wie Hannah sich mit ihm am Telefon unterhielt – jedenfalls nahm sie es an, da Hannah keine anderen Freunde mit Namen Randolph hatte. Tatsächlich war der einzige Theodora bekannte Mensch, der Randolph genannt wurde, der Vater von Winston Churchill.
Hannah hat mit Randolph Butcher telefoniert, welchen wir im Supermarkt kennengelernt haben, schrieb Theodora in ihr
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