Der kuerzeste Tag des Jahres
hatte, und Elkanah versuchte sie mit dem wenigen Deutsch zu unterstützen, das er aus seinen Opern kannte. Aber keiner der beiden schien damit auch nur ansatzweise Erfolg bei diesem grünäugigen Arzt zu haben, dessen Lippen fest zusammengepresst blieben und der bei jedem Besuch Samuels Temperatur nahm.
Glaubte man Naomi, hatte Samuel nie Anzeichen einer Erkrankung gezeigt – Hannah und Elkanah waren nicht in einem Zustand, der eine solche Beobachtung erlaubt hätte. Jeder, selbst der Arzt, war der Meinung, er sei noch mal davongekommen. Naomi schmierte ihn mit Abwehrmitteln ein und legte ihn nachts unter ein Moskitonetz. Er spielte mit den anderen Kindern des Dorfs in der Sonne – grapschte nach Insekten, buddelte Löcher und plantschte in dunklen Tümpeln. Naomi und ihr Freund lasen ihm Geschichten aus dem Mahabharata vor und bastelten eine Schaukel aus alten Stricken zusammen, die sie in den Türrahmen ihres Holzhauses hängten.
Samuel aß dutzendweise Bananen – grüne, reife, gebackene und rohe. Seine Haut wurde an den unmöglichsten Stellen braun und sommersprossig. Er trug keine Schuhe, getrockneter Schlamm und Steinchen steckten zwischen seinen Zehen fest. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er Malaria hatte. Er war so glücklich, vielleicht so glücklich, wie er es nie wieder sein sollte. Er wäre ohne die geringste Reue für immer in diesem winzigen, ärmlichen, abgelegenen, von Krankheiten befallenen Dorf geblieben.
Für Hannah und Elkanah hingegen war der Urlaub ein einziger Fieberwahn. Nach zwei Wochen fühlten sie sich stark genug, um sich von der schuldbewussten Naomi in einem geborgten Jeep zum nächstliegenden kleinen Flugfeld fahren zu lassen. Nach einem holprigen Flug in einer winzigen Maschine, der Samuel das größte Vergnügen bereitete, landeten sie in Port Moresby, wo sie in ein komfortableres Flugzeug umstiegen, das sie nach Sydney brachte.
Elias holte sie am Flughafen ab. Elkanahs Eindruck nach waren seine Augenbrauen so zornig hochgezogen wie nur möglich, und dort oben sollten sie, so kam es ihm zumindest vor, in den kommenden Wochen auch bleiben. Der einzige Trost war Samuels offenbar glänzende Gesundheit und sein enorm gut gelauntes Geplapper. Hannah und Elkanah krabbelten zurück ins Bett und es dauerte weitere zwei Wochen, bis sie sich wieder wie sie selber fühlten.
In den Tagen, den Wochen nach ihrem Urlaub, nachdem sie sich ausreichend erholt hatte, wurde Hannah von einer nervösen Furcht umgetrieben. Hatte Samuel sich dort draußen etwas eingefangen, während sie selber zu krank gewesen war, um es zu bemerken? War ihm zu kalt, zu heiß, fühlte er sich schwach? Sie nahm seine Temperatur, fühlte ihm den Puls, sorgte sich um seinen Appetit.
Doch irgendwann nahm das Leben wieder seinen gewohnten Lauf und Hannahs Patienten, Elkanahs Opernauftritte sowie Theodoras Rückkehr nach ihrem sechswöchigen Aufenthalt bei Pearl schlossen sich schon bald über dem Thema Malaria wie blaues Wasser über dem Kopf eines ertrinkenden Mannes. Der Vorfall kam praktisch nie wieder zur Sprache. Weder Hannah noch Elkanah zeigten je Anzeichen eines Rückfalls. Samuel war kräftig und wuchs rasch heran. Naomi verließ Neuguinea und zog nach Island. Die Ferien versanken für Samuel langsam unter dem Gewicht ungezählter neuer Erfahrungen, und für den Rest seines Lebens blieb ihm nicht mal eine schnappschussartige Erinnerung an jene zwei Wochen. Es war vorbei.
Aber es war nicht vorbei. Nicht für Samuel. Unvermutet von jedem, schlummerte die Krankheit tief in ihm, wie eine Echse, die sich im Wüstensand eingegraben hatte; vor sich hin dämmernd, harmlos, um sich erst dann nach oben zu wühlen, wenn endlich Regen fiel. Und er würde so fallen, wie Regen immer irgendwann fällt: mit aller ihm eigenen verheerenden Kraft.
TEIL 2
Kapitel 6
Randolph Butcher
Zum Zeitpunkt dieser Geschichte, als die klein geratene Theodora zwölf, nahezu dreizehn Jahre alt war und der groß geratene Samuel elf, fast zwölf, hatte Theodora den neuen Freund ihrer Mutter, Randolph Butcher, bereits über einige Wochen hinweg beobachtet und ihre Schreibhefte mit Notizen über ihn gefüllt.
Hannah hatte viele Freunde. Sie lernte sie über ihre Arbeit kennen – Pflegepersonal, andere Psychiater, Bibliothekare, Sozialarbeiter, Eltern, deren Kinder zu viele Drogen genommen hatten, Schwestern, deren Brüder zu viel Alkohol getrunken hatten. Elkanahs Wunsch nach Gesellschaft war durch seine Aufführungen befriedigt,
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