Rachsucht
1. Kapitel
Immer wieder werde ich gefragt, wem ich die Schuld gebe. Was war die Ursache für den Unfall? Rücksichtslosigkeit, grelles Sonnenlicht, eine scharfe Kurve? Im Grunde wollen die Leute wissen, ob Jesse nicht doch selbst schuld war. War er vielleicht unvorsichtig und fuhr mit dem Rad mitten auf der Straße? Hatte er irgendwie das Schicksal herausgefordert und würde mich deswegen nie selbst zum Altar führen können?
Am liebsten würden sie eine höhere Macht oder zumindest menschliche Unvernunft dafür verantwortlich machen. Isaac Sandoval war auf der Stelle tot gewesen, und Jesse Blackburn lag mit zerschmetterten Knochen gelähmt auf dem Hang, ohne seinen Freund erreichen zu können, während der Unfallverursacher das Weite suchte. Und da soll ich den Leuten erzählen, die Opfer wären selbst schuld? Sie wollen gern hören, dass alles anders gekommen wäre, wenn Jesse jeden Tag Zahnseide benutzt oder sich umgedreht hätte, als er den Wagen hinter sich hörte. Sie wollen sicher sein, dass ihnen so etwas nicht passieren könnte. Aber das kann ich ihnen nicht garantieren.
»Der Fahrer«, hatte ich bisher immer auf die Frage nach dem Schuldigen geantwortet. Der Mann, der am Steuer des seidengrauen BMW die Serpentinenstraße hinter Santa Barbara hinaufgejagt war. Eine Hand am Lenkrad und die andere
im Haar der Frau, deren Kopf in seinem Schoß lag. Der Kerl, der sich einen blasen ließ und nach dem Unfall spurlos verschwand.
Das hatte ich immer gesagt. Bis jetzt.
»Er hat bestimmt Ordner engagiert«, warnte Jesse.
»Mach dir keine Sorgen. Mit denen werd ich schon fertig.«
Jesse spähte durch das Autofenster. Im Licht des Sonnenuntergangs schimmerten die weißen Mauern des Santa Barbara Museum of Art auf der anderen Straßenseite orangerot. Gäste in glitzernden Kostümen stiegen die Treppe zum Eingang hinauf. Jesse trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.
»Du darfst keine Zeit verlieren«, sagte er. »Geh rein, erledige die Sache und verschwinde sofort wieder. Falls es Ärger geben sollte …«
Ich legte meine Hand auf seine. »Ich bin schon öfter auf Partys gewesen, zu denen ich nicht eingeladen war.«
Er warf mir aus kühlen blauen Augen einen sarkastischen Blick zu und verzog den Mund. »Evan, das ist kein Kindergeburtstag.«
»Nein, aber ein Kunstmuseum. Der Sicherheitsdienst ist darauf gedrillt, Gemälde zu bewachen. Unerwünschte Gäste fernzuhalten gehört nicht zu seinen üblichen Aufgaben.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte er. »Und außerdem sitzt deine Perücke schief.«
Ich rückte sie gerade. »Du bist ja nur neidisch, weil du Cal Diamond die Papiere gern selbst vor den Augen seiner Geschäftspartner ins Gesicht klatschen würdest.«
»Wo du recht hast, hast du recht.«
Wir wussten beide, dass Diamond Jesse schon aus weiter Ferne identifiziert hätte, auch wenn er in der verblichenen Jeans und dem alten T-Shirt der amerikanischen Schwimmmannschaft überhaupt nicht wie ein Anwalt wirkte. Jesse war jung, sah gut aus und hatte braunes Haar, das seit Monaten nicht mehr geschnitten worden war. Und er saß im Rollstuhl. Diamond hätte ihn auf den ersten Blick erkannt. Daher musste er den Job mir überlassen.
Ich warf mich in Positur. »Wie sehe ich aus?«
Er musterte meine Verkleidung: glitzernder weißer Lippenstift, riesige Kreolen in den Ohren und eine falsche schwarze Haarpracht, die den Eindruck erweckte, als wäre auf meinem Kopf ein Vulkan explodiert. Das paillettenbesetzte Minikleid in Pink stammte aus einem Secondhandladen, während ich die PVC-Stiefel in meinem Schrank gefunden hatte – Relikte aus dem Jahr, in dem ich mich in einem Anfall von geistiger Umnachtung dem Cheerleaderteam meiner Highschool angeschlossen hatte.
»Perfekt«, sagte er. »Wie die bezaubernde Jeannie.«
»Falsch geraten. Ich bin Diana Ross.«
Er musterte skeptisch meine milchweiße Haut, die ich meinen irischen Vorfahren verdankte.
»Na schön. Dann eben Diana O’Ross.«
Er reichte mir Ladung und Klageschrift. Dann zeigte er mir einen Schnappschuss von einem Mann in den Fünfzigern, an dem mir vor allem die buschigen Augenbrauen und die Haifischzähne auffielen.
»Eine echte Gangstervisage«, meinte ich.
»Ja, und heute Nacht ist er als Zorro verkleidet. Nimm dich vor seiner Peitsche in Acht.« Er schnippte mit dem Finger gegen das Foto. »Und vor seiner Frau.«
Das Foto zeigte Mari Vasquez Diamond an der Seite ihres Ehemannes. Sie hatte die langen Finger um
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