Der Kuß der Schlange
untypisch für Robert, der schließlich der Sohn seiner Mutter war, daß er derartige Sticheleien ohne Kommentar hinnahm, aber wieder ging er nicht darauf ein. »Macht nichts«, meinte er nur, »es ist ja nicht weit.«
»Ich kann laufen«, sagte Mrs. Hathall im stoischen Ton dessen, der sich darüber klar ist, daß noch schlimmere Prüfungen bevorstanden und daß diese erste und leichteste tapfer ertragen werden muß. »Ich bin ja ans Laufen gewöhnt.«
Der Weg führte sie an der Bahnhofsauffahrt und der Station Road vorbei, über die Kingsmarkhamer High Street und dann die Stowerton Road entlang. Es war ein schöner Septemberabend, die Luft schimmerte im Licht des Sonnenuntergangs, die Bäume hingen noch voller Blätter, in den Gärten leuchteten die letzten und schönsten Blumen des Sommers. Aber Mrs. Hathall bemerkte nichts von alledem. Ihre freudige Vermutung war zur Gewißheit geworden. Roberts Niedergeschlagenheit konnte nur eins bedeuten: Diese Person, seine Frau, diese Diebin, diese Zerstörerin einer glücklichen Ehe, war dabei, ihn im Stich zu lassen, und er wußte es.
Sie bogen in die Wool Lane ein, eine enge, von Bäumen beschattete Nebenstraße ohne Bürgersteig. »Das nenne ich ein schönes Haus«, sagte Mrs. Hathall.
Robert warf flüchtig einen Blick auf die alleinstehende Villa aus der Zeit zwischen den Kriegen. »Es ist das einzige Haus hier unten außer unserem. Eine Frau namens Lake wohnt da. Sie ist Witwe.«
»Schade, daß es nicht deins ist«, sagte seine Mutter mit bedeutungsschwerem Unterton. »Ist es noch weit?«
»Gleich hinter der nächsten Biegung. Ich verstehe gar nicht, was mit Angela los ist.« Er blickte sie nervös an. »Es tut mir sehr leid, Mutter. Wirklich, es tut mir leid.«
Sie war so verblüfft, daß er tatsächlich von der Gepflogenheit der Familie abwich und sich allen Ernstes für etwas entschuldigte, daß sie darauf gar nicht antworten konnte. Sie blieb stumm, bis das Haus in Sicht kam. Eine leichte Enttäuschung beeinträchtigte ihre innere Befriedigung, denn es war ein Haus, ein annehmbares, wenn auch altes Haus aus braunen Ziegeln mit einem soliden Schieferdach. »Das ist es?«
Er nickte und öffnete ihr die Gartenpforte. Mrs. Hathall bemerkte, daß in dem ungepflegten Garten die Blumenbeete voller Unkraut und das Gras kniehoch waren. Unter einem vernachlässigt aussehenden Baum lagen verrottete Pflaumen. Sie sagte nur: »Hmm.« Dies undefinierbare Geräusch war typisch für sie und bedeutete, daß sich die Situation genau so entwickelte, wie sie es erwartet hatte. Er steckte den Schlüssel in das Haustürschloß, und die Tür ging auf. »Komm rein, Mutter.«
Er war jetzt eindeutig aus der Fassung geraten. Daran bestand jetzt kein Zweifel mehr. Sie kannte seine Angewohnheit, die Lippen zusammenzupressen, während in der linken Wange ein kleiner Muskel arbeitete. Und in seiner Stimme schwang ein barscher, nervöser Ton mit, als er rief: »Angela, wir sind da!«
Mrs. Hathall folgte ihm ins Wohnzimmer. Sie traute kaum ihren Augen. Wo waren die schmutzigen Teetassen, die Gingläser mit den Fingerspuren, die herumliegenden Kleidungsstücke, wo waren die Krümel und der Staub? Sie pflanzte sich in ihrer ganzen Rechteckigkeit auf dem fleckenlosen Teppich auf und drehte sich langsam um sich selbst. Sie suchte die Decke nach Spinnweben, die Fenster nach Schmierflecken und die Aschenbecher nach vergessenen Zigarettenkippen ab. Ein merkwürdiges, unangenehmes Frösteln überfiel sie. Sie fühlte sich wie ein Champion, der siegessicher von seiner Überlegenheit überzeugt die erste Runde gegen einen Anfänger verlor.
Robert kam zurück und sagte: »Ich begreife nicht, wo Angela steckt. Sie ist nicht im Garten. Ich sehe mal eben in die Garage, ob der Wagen da ist. Gehst du schon rauf, Mutter? Dein Zimmer ist das große, ganz hinten.«
Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß der Eßzimmertisch nicht gedeckt war und daß es in der makellosen Küche, wo die Gummihandschuhe und Staubhandschuhe nach getaner Hausarbeit noch neben dem Spülbecken lagen, keinerlei Anzeichen für eine vorbereitete Mahlzeit gab, stieg Mrs. Hathall die Treppe hinauf. Sie fuhr mit einem Finger über die Bilderleiste auf dem Treppenabsatz. Kein Staubkorn, nichts – als wäre das Holz frisch gestrichen. Ihr Zimmer war ebenso makellos sauber wie der Rest des Hauses. In dem aufgeschlagenen Bett konnte sie die buntgestreifte Bettwäsche sehen, und eine mit Seidenpapier ausgelegte Schublade des
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